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KRIEG UND FRIEDEN
Wann werden Kriege zur Nachricht?
Aktuell

Wann werden Kriege zur Nachricht? 

Viel wurde in letzter Zeit über die militärischen Auseinandersetzungen mit den Huthi-Rebellen im Jemen berichtet. In den Nachrichten spielte das Land vor den Angriffen auf Handelsschiffe, die das Rote Meer durchquerten, kaum eine Rolle – und das, obwohl die Vereinten Nationen die Lage im Jemen seit Jahren als „schlimmste humanitäre Krise weltweit“ bezeichneten. Zahlreiche Kriege und Katastrophen, die sich im Globalen Süden ereignen, finden abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit statt. Woran liegt das?

Von Ladislaus Ludescher (Goethe-Universität Frankfurt a. M.)

Seit den letztlich gegen Israel gerichteten Angriffen der Huthi-Rebellen auf Handelsschiffe im Roten Meer und den militärischen Gegenaktionen der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten, findet der Jemen eine gewisse Beachtung. Das ist erschreckend. Erschreckend ist nicht, dass der Jemen nun in den Nachrichten auftaucht, sondern, dass dies erst jetzt, nach der Gefährdung politischer und ökonomischer Interessen des sogenannten Westens geschieht. Fast könnte man meinen, dass vorher im Land an der Südspitze der arabischen Halbinsel nichts Berichtenswertes geschehen sei. Vergeblich durchsucht man die Nachrichtendatenbanken vor 2024 nach dem Jemen. Außer einzelnen verstreuten Berichten wird man kaum fündig.

2017 größten jemals gemessenen Cholera-Epidemie

Dabei herrscht im Jemen seit 2015, also seit mittlerweile neun Jahren, ein Bürgerkrieg zwischen der von Saudi-Arabien unterstützten jemenitischen Regierung und den Iran nahestehenden Huthi-Rebellen. Die Ursprünge der militärischen Auseinandersetzungen im Jemen reichen aber weiter zurück. Zwei Jahrzehnte Krieg seit dem Aufstand der Huthi gegen die Regierung im Jahr 2004 haben das Land in Trümmer gelegt. 2017 wurde der Jemen von der größten jemals gemessenen Cholera-Epidemie heimgesucht, Schätzungen zufolge starben in Folge des Bürgerkriegs allein bis Ende 2021 etwa 377 000 Menschen. Bis heute sind laut UNICEF drei Viertel der Bevölkerung auf humanitäre Unterstützung angewiesen. Über eine halbe Million Kinder unter fünf Jahren sind lebensbedrohlich mangelernährt. Die Vereinten Nationen stuften die Lage im Jemen seit Jahren als „schlimmste humanitäre Krise weltweit“ ein.

Offensichtlich haben das Leid und die humanitäre Katastrophe im Land aber nicht ausgereicht, um medial ernsthaft thematisiert zu werden. Der Jemen kam, das zeigt eine vor der Veröffentlichung stehende Untersuchung des Autors dieses Beitrags, in den Nachrichten praktisch nicht vor. Das gilt für führende in- und ausländische Nachrichtensendungen wie die deutsche und Schweizer Tagesschau, die österreichische Zeit im Bild (ZIB) 1 oder die US-amerikanischen ABC World News Tonight. Das gilt aber auch für die wichtigsten politischen Talkshows und praktisch alle führenden Printmedien. Insgesamt wurden in der Untersuchung, in deren Zentrum die mediale Vernachlässigung des Globalen Hungers steht, mehr als 40 Medien ausgewertet und – mit Ausnahme des ARTE Journal und der taz – gilt für alle, dass der Jemen in der Berichterstattung der vergangenen Jahre praktisch keine Rolle spielte.

Haiti steht wirtschaftlich und politisch am Abgrund

Leider stellt der Jemen keine Ausnahme dar. Als „tödlichster“ Krieg des 21. Jahrhunderts gilt der Bürgerkrieg in der nordäthiopischen Region Tigray, in den auch Eritrea verwickelt war und der zwischen 2020 und 2022 schätzungsweise bis zu 600 000 Menschenleben forderte.

In den Nachrichten wurde hierüber aber wie über die dokumentierten Kriegsverbrechen kaum berichtet. Amnesty International konstatierte schwerste Menschenrechtsverletzungen wie Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnische Säuberungen und bemängelte das Desinteresse der Internationalen Gemeinschaft.

Zu den vergessenen militärischen Konflikten gehören auch die Kämpfe in Myanmar zwischen Rebellen und der antidemokratischen Militärjunta sowie der Krieg im Sudan, wo Schätzungen zufolge mehr als sechs Millionen Menschen auf der Flucht sind, und eine Hungersnot droht.

Dass in Haiti, dessen Hauptstadt Port-au-Prince zu etwa 80 Prozent von rivalisierenden Banden beherrscht wird, im vergangenen Jahr etwa 4 000 Menschen ermordet wurden, dürften wohl ebenso nur die aufmerksamsten Nachrichtenzuschauer oder -leser mitbekommen haben. Volker Türk, dem Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte, zufolge steht Haiti wirtschaftlich und politisch am Abgrund. Er verwies auf die humanitäre Krise im Land und forderte den Einsatz internationaler Sicherheitskräfte, um die Situation zu stabilisieren.

Medial vernachlässigten Krisen, Kriege und Katastrophen

Die Liste der  ließe sich leicht verlängern. Die Hilfsorganisation CARE hat im Januar 2024 einen Bericht mit den zehn am stärksten vernachlässigten Krisengebieten veröffentlicht – alle liegen in Afrika.

Über Jahre durchgeführte Langzeituntersuchungen des Autors dieses Beitrags, zu denen beispielsweise die Auswertung von etwa 6 000 Ausgaben der Tagesschau gehören, zeigen, dass der Globale Süden in den Nachrichten allgemein eine sehr untergeordnete Rolle spielt.

Dies zeigt sich insbesondere auch im direkten Vergleich der Berichterstattung über ausgewählte Länder im Globalen Norden und Globalen Süden in der Tagesschau im Jahr 2023 (Abb. oben).

Im Durchschnitt beschäftigen sich Nachrichtenmedien in lediglich etwa 10 Prozent ihrer Sendezeit oder Beitragsseiten mit den Ländern des Globalen Südens, obwohl dort etwa 85 Prozent der Weltbevölkerung leben. Im vergangenen Jahr 2023 waren es in der Tagesschau insgesamt 15 Prozent, was, wie eine genauere geografische Aufschlüsselung zeigt, auf den Krieg in Israel und Gaza in der MENA (Middle East and North Africa)-Region zurückzuführen ist.

Es scheint also, dass hinsichtlich der Frage, ob über einen Krieg berichtet wird oder nicht, ausschlaggebend ist, ob ein Staat des Globalen Nordens an diesem beteiligt ist. Kriege ohne unmittelbare Auswirkungen auf den Globalen Norden, seien sie aus humanitären Gesichtspunkten auch noch so tragisch, werden in der Regel in den Nachrichten nur äußerst peripher registriert.

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