Fehler, falsche Informationen, Fälschungen, Fakes. All das gibt es in der Wikipedia. Aber jetzt wird sie zum Ziel einer Kampagne – und zeigt sich bemerkenswert hilflos.
Im Januar 2001 begann mit dem Start der englischsprachigen Wikipedia [1] eine Erfolgsgeschichte, die die Welt veränderte. Die zweite Sprachversion war die deutschsprachige.
Die „freie Enzyklopädie“ ist nach Sprachen organisiert, nicht nach Staaten. So gibt es eine deutschsprachige Wikipedia für alle, die deutsch schreiben, aber keine deutsche, österreichische oder schweizerische Version. Allerdings gibt es neben der deutschen Sprachversion auch die auf Plattdeutsch, Luxemburgisch, Alemannisch, Bayrisch, Nordfriesisch, Saterfriesisch, die im Kölner Platt und die auf Pennsylvania-Deutsch – selbstverständlich sind die sehr viel kleiner, mit bedeutend geringerer Artikelzahl.
Derzeit gibt es die Wikipedia in 320 „aktiven“ Sprachversionen, in denen noch geschrieben werden kann [2].
Heute ist die „freie Enzyklopädie“ die größte Universalenzyklopädie – und gleichzeitig die einzige, denn alle vormals gedruckten kommerziellen Lexika (Brockhaus, Encyclopedia Britannica etc.) werden nicht mehr aufgelegt. Das mag auch daran liegen, dass eine elektronische Enzyklopädie mit klickbaren Hyperlinks besser nutzbar ist als eine auf Papier, seit mobile Endgeräte weite Verbreitung fanden. Außerdem ist sie schneller aktualisierbar, nämlich in Echtzeit. Im Gründungsjahr 2001, gerade einmal zehn Jahre nach der Erfindung des World Wide Web, war das nicht absehbar.
Heute ist sie die einzige nicht-kommerzielle Website unter den fünfzig meistbesuchten Websites weltweit – eine beeindruckende Leistung. Suchmaschinen präsentieren Wikipedia-Artikel oft sehr prominent, was ihre Verbreitung steigert.
Das liegt auch daran, dass Wikipedia so einfach ist: Wer will, kann mitschreiben, sogar anonym, ohne einen Account anzulegen. Allerdings auch ohne jede Kompetenzprüfung.
Wer sich einen Account anlegt, kann dies mit einem Pseudonym tun und bleibt damit ebenfalls anonym, was im Netz ist ein hohes Gut ist. Viele der ehrenamtlichen Mitarbeiter nutzen diese Möglichkeit.
Sicherlich spielt auch eine Rolle, dass das Editieren der Wikipedia, verglichen mit anderen Content-Management-Systemen, relativ einfach ist. Überhaupt ist die Software der Wikipedia durchdacht und gut gepflegt.
Jeder kann mitschreiben, aber es wird alles protokolliert! An jeder frei editierbaren Seite hängt immer eine maschinell erstellte, nicht editierbare „Versionsgeschichte“, in der jede Änderung an einem Artikel in einer Zeile vermerkt wird: Wann wer (welcher Account oder IP-Nummer) welche Zeichen am Text geändert hat. Maximale Transparenz, was Inhalte angeht.
In Wikipedia darf jeder mitschreiben, egal, ob kompetent oder nicht, egal, ob nur einmal oder jeden Tag – das wird nicht geprüft. Wikipedia bedeutet: Viele Menschen sagen freiwillig, was sie wissen. Aber wenn viele sagen, was sie wissen, dann gibt es auch Nichtwissen, Fehler, veraltetes Wissen und bewusste Fälschungen.
Fehler, fehlendes Wissen, Fälschungen
Wikipedia arbeitet kollaborativ: An einem Artikel können und sollen mehrere, sogar sehr viele Bearbeiter schreiben, die sich gegenseitig korrigieren sollen. Das ist dann Konsens, aber keine Gewähr für die Richtigkeit dessen, was in einem Artikel steht.
Einen Artikel zu lesen und einfach zu glauben, was dasteht, (es möglicherweise sogar abzuschreiben) ist deswegen ein Fehler – und wahrscheinlich trotzdem die häufigste Form der unreflektierten Nutzung.
Der Grund dafür kann simples Nichtwissen sein. Zum Beispiel beschreibt die deutsche Version der Wikipedia die „Hutnadel“ als ein Modeaccessoire, mit dem Frauen im ausgehenden 19. Jahrhundert ihre Hüte im Haar befestigten [3]. In der englischen Wikipedia findet man den Hinweis, dass damals Frauen erstmal allein in der Öffentlichkeit unterwegs waren und die langen Nadeln auch verwendeten, um aufdringliche Männer auf Abstand zu halten. In der niederländischen Version finden sich sogar Fotos davon, wie eine Frau einen Mann damit abwehrt.
Schlimmer: Deutsche Versicherungsbürokraten verweigerten ehemaligen Ghettoarbeitern aus dem Nazi-besetzen Polen deren Rentenansprüche. Das Argument dafür: Ihr Ghetto sei in der Wikipedia nicht erwähnt [4], so schrieb 2010 der Spiegel. Diese gedankenlose Argumentation unterstellt der Wikipedia Vollständigkeit – ein absurder Gedanke. Tatsächlich aber haben sogar deutsche Gerichte diese „Argumentation“ übernommen.
Selbstkontrolle?
Fehler sollen bemerkt und korrigiert werden, das ist die Hoffnung bei kollaborativem Arbeiten. Oft klappt das, aber nicht immer.
Wegen der großen Wirkmacht ist die Wikipedia Ziel von Aktionen, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Das machen Politik und PR. Viele Angehörige des deutschen Bundestages haben ihre eigenen Einträge modifiziert [5], so Recherchen von Medien. Das ist nicht verboten, aber neutral ist es bestimmt nicht.
„Wir verfassen und veröffentlichen Ihren Wikipedia-Artikel innerhalb von 14 Tagen“, heißt es dann auf den Webseiten vieler PR-Agenturen. Ein altgedienter Wikipedianer gründete sogar selbst eine Agentur und offeriert jetzt „Wikipedia Mentoring“ [6]. Etliche bekannte Fälle listet die Wikipedia selbst auf [7].
Über unbekannte Fälle weiß man selbstverständlich nichts, es bleibt eine Dunkelziffer. Es ist aber vorgekommen, dass Wikipedia erst nach Presseberichten reagierte. Ob die Wiki-interne Selbstkontrolle funktioniert, muss bezweifelt werden.
Wikipedia ist ein Monopol, und ein sehr wirkmächtiges. Sie hat das Potenzial, den Blick auf die Wirklichkeit zu ändern. Ein bekanntes Beispiel ist der Fall Wilhelm zu Guttenberg. Bei der Amtseinführung von Karl-Theodor im Februar 2009 hatte jemand einfach den Wikipedia-Eintrag des fränkischen Adeligen um den falschen Vornamen „Wilhelm“ bereichert. Das reichte, dass mehr als ein Dutzend (zum Teil renommierter) Medien diesen falschen Namen abschrieben. Die „Bild-Zeitung“ brachte ihn gar auf der Titelseite.
Der Ulk flog erst auf, als der bis heute unbekannte Schalk seine Tat mit einem Gastbeitrag im Bildblog bekannte [8]. Da war die Peinlichkeit groß. Wie lange hätte der falsche Wilhelm in der Wikipedia gestanden, hätte sich der Fälscher nicht selbst geoutet?
Ein anderes, weniger bekanntes Beispiel:
Am 16. Februar 2009 dichtete jemand dem Artikel über die Karl-Marx-Allee [9] in Berlin Friedrichshain an, wegen der charakteristischen Keramikfliesen hätte man die Straße zu DDR-Zeiten im Volksmund auch „Stalins Badezimmer“ genannt. Das geschah als anonymer Edit ohne jeden Beleg, der eigentlich umgehend hätte gelöscht werden müssen, der aber stehenblieb, ohne hinterfragt zu werden.
Erlaubt hatte sich diesen Scherz Andreas Kopietz von der Berliner Zeitung. Als er 2012, drei Jahre später, nach „Stalins Badezimmer“ googelte, fand er 360 Belege. Keiner älter sein Edit. Die Formulierung steht mittlerweile in wissenschaftlichen Publikationen und in Reiseführern über Berlin. Erst nach seinem Bericht in der Berliner Zeitung wurde der Artikel korrigiert [10].
Auch hier wäre die Unwahrheit stehengeblieben, hätte sich der Verursacher nicht selbst geoutet. Man kann aber auch sagen: Jetzt ist es wahr.
Koordinierte Angriffe
Zuweilen sind Fälschungen in der Wikipedia aber weit entfernt davon, lustig zu sein. 2019 enthüllte die israelische Zeitung Haaretz, dass in der englischen Version der Wikipedia seit 15 Jahren ein deutsches Vernichtungslager in Warschau beschrieben wurde, dass es nie gegeben hat [11]. Tatsächlich gab es nach der Niederschlagung des Aufstandes im Warschauer Ghetto dort ein KZ, aber kein Vernichtungslager.
Dazu schrieb Pavel Richter, ehemaliger Geschäftsführer von Wikimedia Deutschland, in seinem Buch „Die Wikipedia-Story – Biografie eines Weltwunders“, [12] es „wurde Wikipedias Reichweite und Reputation dazu verwendet, eine bereits bestehende Lüge erneut in den öffentlichen Diskurs zu bringen.“
Weiter schreibt er: „Doch Wikipedia hat ein im Internet einmaliges System geschaffen, mit Fehlern umzugehen: Die radikale Transparenz macht jeden Bearbeitungsschritt nachvollziehbar. (…) Kein anderes Medium mit einer solchen Reichweite macht sich ebenso transparent wie offen für umgehende Korrekturen wie Wikipedia.“
Aber genau das stimmt so nicht. Zwei Wissenschaftler nahmen den Fall zum Anlass, genauer hinzuschauen. Im Februar dieses Jahres publizierten die Historiker Jan Grabowski und Shira Klein die Ergebnisse ihrer intensiven Recherche im Journal of Holocaust Research. Ihr Text „Wikipedia’s Intentional Distortion of the History of the Holocaust“ [13] ist frei im Netz verfügbar.
Was die beiden Holocaust-Forscher gefunden haben, ist bedeutend: eine Gruppe von koordiniert handelnden Accounts, die offenbar von polnisch-nationalistischen Betreibern gelenkt werden. Gemeinsam hätten sie verschiedene Artikel zu den Themen Holocaust in Polen, Juden in Polen und Polen im Zweiten Weltkrieg in einem polnisch-nationalistischen Sinn umgeschrieben dergestalt, dass die Zahl der polnischen Opfer stieg, die der jüdischen sank. Ebenso wuchs die Zahl der Polen, die Juden während der deutschen Besatzung geholfen haben. Hinweise auf polnische Kollaboration wurden gelöscht.
Nach wissenschaftlichen Maßstäben ist all das widerlegt. Das Problem ist aber die Verbreitung der Wikipedia. Die betroffenen Artikel werden – selbstverständlich – viel häufiger gelesen als ein wissenschaftlicher Fachartikel.
Wie steht es nun um die Selbstkontrolle der Wikipedia? Fünf Monate nach der Veröffentlichung nachgeschaut, ist die Mehrzahl der fälschenden Accounts noch aktiv. Die Änderungen an den in Rede stehenden Artikeln sind marginal.
Wegen dieses Falls tagte von März bis Mai das Schiedsgericht („Arbitration Committee“) [14] der englischen Wikipedia, das oberste Schiedsgremium. Es besteht aus zwölf Administratoren, das sind gewählte Wikipedianer mit besonders großen Befugnissen. Deren Entscheid liegt vor [15] – und ist verstörend. Die Administratoren sind Laien, keine Historiker. Ihre Aufgabe sehen sie nicht darin, über strittige Inhalte zu urteilen, sondern über das Verhalten der Streitenden.
Die Forscherin Shira Klein kommentiert das so: „Theoretisch verfügt Wikipedia über Richtlinien gegen falsche Darstellung von Quellen und marginale Standpunkte und definiert sie als sanktionierbare Vergehen. In der Praxis werden Redakteure bei Verstößen nur selten mit Sanktionen belegt. Wesentlich häufiger kommt es vor, dass Redakteure wegen Verstößen gegen das zwischenmenschliche Verhalten, etwa Unhöflichkeit, sanktioniert werden. Genau das ist hier passiert.“
Mit anderen fordert sie jetzt ein Eingreifen der Wikimedia Fundation (WMF). Diese solle Experten beauftragen, den Fall zu untersuchen (so 2021 in der kroatischen Wikipedia geschehen). [16] Die Zeitung „The Orange County Register“ bat die WMF um Stellungnahme und druckte diese ab [17]. Sie ist wachsweich und formal.
Sollte es organisierten Gruppen gelingen, Themenfelder in der Wikipedia zu besetzen und umzuschreiben, wird dieser Fall nicht der letzte sein. Anzeichen für weitere Fälle liegen vor. Wenn sich die Wikipedia nicht bemüht, den wissenschaftlichen Konsens wiederzugeben, dann ist sie keine Enzyklopädie.
Anmerkungen zum Artikel: [1] https://en.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Anniversary#Language_siblings 2] https://meta.wikimedia.org/w/index.php?title=List_of_Wikipedias&oldid=24965093 3] https://de.wikipedia.org/wiki/Hutnadel 4] https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/entschaedigung-im-zweifel-gegen-die-opfer-a-682957.html 5] https://netzpolitik.org/2021/wikipedia-edits-aus-dem-bundestag-abgeordnete-wahlkampf/#netzpolitik-pw 6] https://www.youtube.com/watch?v=FNsTaKwyAzI 7] https://en.wikipedia.org/wiki/Conflict-of-interest_editing_on_Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Kritik_an_Wikipedia#Inhaltliche_Beeinflussungen 8] https://bildblog.de/5704/wie-ich-freiherr-von-guttenberg-zu-wilhelm-machte/ 9] https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Karl-Marx-Allee&oldid=56754304 10] https://www.berliner-zeitung.de/wikipedia-selbstversuch-wie-ich-stalins-badezimmer-erschuf-li.6677 11] https://www.haaretz.com/israel-news/2019-10-04/ty-article-magazine/.premium/the-fake-nazi-death-camp-wikipedias-longest-hoax-exposed/0000017f-e367-d568-ad7f-f36f77000000 12] https://www.spiegel.de/netzwelt/web/wikipedia-wie-sich-ein-erfundenes-vernichtungslager-15-jahre-lang-im-online-lexikon-halten-konnte-a-22f8b5f6-fc26-4794-b8a4-19bf8ab09638 13] https://www.tandfonline.com/doi/epdf/10.1080/25785648.2023.2168939?needAccess=true&role=button 14] https://en.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Arbitration_Committee 15] https://en.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Arbitration/Requests/Case/World_War_II_and_the_history_of_Jews_in_Poland#Final_decision 16] https://meta.wikimedia.org/wiki/Croatian_Wikipedia_Disinformation_Assessment-2021 17] https://www.ocregister.com/2023/05/30/whos-fact-checking-wikipedia-editors-who-distort-misinform/
Albrecht Ude
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