Das Fotobuch „Tina Turner by Peter Lindbergh“ strahlt die sensible und innige Kollaboration zweier Superstars im jeweiligen Metier aus. Sie trafen sich erstmals auf Initiative von Tina Turners Manager, Roger Davies, 1989 zum ersten Fotoshooting, als beide Ausnahmekünstler schon Jahrzehnte erfolgreicher Karrieren hinter sich hatten. Das Fotobuch ist der Spiegel einer intensiven Zusammenarbeit von Rockstar und Fotograf. Es ist eine Reise in die analoge Schwarz-Weiß-Fotografie ohne Photoshop.
Zwei Faksimiles der Korrespondenz zwischen Musikmanager Roger Davies und Peter Lindbergh per Faxgerät über Kontinente hinweg versetzen den Betrachter am Anfang des Buches in die vordigitale Zeit. Spätestens mit dem Album „Private Dancer“ (1984) hatte Tina Turner ein fulminantes Comeback. Der Titelsong, komponiert von Dire-Straits-Gitarrist Mark Knopfler, schoss weltweit in die Charts. Das Album-Cover, fotografiert vom britischen Starfotografen Peter Ashworths, war eine typische Studioinszenierung der 1980er-Jahre. Das Licht diente weniger der Natürlichkeit als der gezielten Dramatisierung. Die Pose ist als konzeptionelle Studioästhetik durchkomponiert. Manager Davies wollte an den Erfolg von „Private Dancer“ anknüpfen. Musikalisch ging er den Weg des vorherigen Albums weiter. Wieder spielte Mark Knopfler die Gitarre im Titelsong „Foreign Affair“ (1989).
Lindbergh hatte eine Muse gefunden
Visuell wollte Davies durch die Verpflichtung Peter Lindberghs mit der Artwork des Albums überraschen. Lindbergh konnte mit Schwarz-Weiß-Fotografie in natürlichem Licht, Minimalismus statt komplizierter Inszenierung und wenig Make-up sowie emotionaler Tiefe statt steifer Pose dem Nachfolgealbum eine völlig natürliche Tina Turner bieten. Der Bilder-Geschichten-Erzähler Lindbergh hatte sofort eine Muse der besonderen Art gefunden. Lindberghs legendäre gute Laune und der Respekt gegenüber Menschen vor der Kamera ließen die beiden Vollblutkünstler in dieser ersten Produktion Außergewöhnliches schaffen. Dazu gehört das Cover am Strand in Südfrankreich und vor allem das ikonische Foto der kletternden Tina Turner am Pariser Eiffelturm. Es sind diese spontan wirkenden Motive, hinter denen keine Inszenierung vermutet wird. Lindbergh traf auf diese gewaltige Perfomance, die die Sängerin in ihrer zweiten Karriere auszustrahlen vermochte. Hinzu kam das neue Lebensglück in ihrer späten zweiten Ehe mit Erwin Bach. Der Musikmanager Bach begleitete Tina Turner bis ans Lebensende. Sie heirateten spät; und schließlich rettete Bach ihr mit einer Nierenspende sogar das Leben. Nach tragischen Enttäuschungen aus ihrer ersten Ehe wurde Bach der Anker in Turners Leben, und die beiden Rheinländer Lindbergh und Bach wurden genauso wie Tina und Peter schnell Freunde.
Das Vorwort von Erwin Bach beschreibt diese Freundschaft im Buch in warmen, persönlichen Worten. Die emotionale Einleitung zu diesem ehrlichen Buch über eine Seelenverwandtschaft reicht bis zum letzten Besuch Lindberghs vor seinem Tod im Hause des Ehepaars Turner-Bach in Zürich.
Emotionale Übereinkunft zwischen Model und Fotograf
Lindbergh hatte Modefotografie neu definiert. Supermodels sollten keine von Artdirektoren konstruierten Phantasiefrauen mehr sein, sondern ihrer eigenen und natürlichen Weiblichkeit Platz geben. Sie lächelten kaum und waren das, was man heute als cool bezeichnet. Dabei blieben sie immer rätselhaft, was den Reiz unterstrich.
Anders sollte es mit Tina Turner werden. Wie auf Knopfdruck muss zwischen beiden diese emotionale Übereinkunft zwischen Model und Fotograf entstanden sein, die wie eine platonische Liebe funktioniert. Es sind nur kleine Gesten und wenige Worte, welche die Gefühlswelt Turners vor Lindberghs Kamera wach werden lassen. Die Schwarz-Weiß-Aufnahmen, für die Lindbergh weltweit geschätzt wurde, offenbaren Tina Turner in einer Intensität, wie sie nur im größten Vertrauen entstehen kann. Da ist nicht der coole Blick eines Supermodels in die Ferne, sondern dieses Sich-völlig-aufeinander-Einlassen. Eine solche Hingabe des Sujets ist das größte Glück, das einem Fotografen widerfahren kann. Ob in der Weite der Mojave-Wüste, am Pariser Ufer oder in intimen Studiosettings: Turners Präsenz ist in jedem Bild physisch spürbar. Die Kamera zeigt authentisch Würde mit Energie. Lindbergh hält die Vulkanausbrüche an Mimik und Gestik einfach fest. Jedes Foto zeigt, dass die vom Leben oft enttäuschte Frau sich bei Lindbergh in sicheren Händen fühlt.
Zehn Kontaktbögen sehr eng aufgefasster Porträtshootings in Los Angeles zeigen, wie sich Tina Turner der Kamera hingibt. Die ausgewählten Fotos sind nicht immer die technisch perfekten. Da gibt es die eine oder andere Unschärfe, verrissene Bewegungen. Lindbergh scheint genau dieses Unperfekte regelrecht zu suchen und erzeugt dadurch noch mehr Glaubwürdigkeit. Beim Eiffelturm-Foto wählte er den letzten Schuss aus, der ihm am besten gefiel. Das Negativ war das letzte auf dem Rollfilm, und das kleine Stück Klebeband, das in den Bildausschnitt ragte, wäre bei anderen Fotografen als Makel retuschiert worden. Er ließ es dort, wo es ist. Es dokumentiert diesen unvorstellbaren Moment, in dem ein Fotograf intuitiv merkt, dass er das angestrebte Motiv festgehalten hat, egal wie viele Aufnahmen er vorher gemacht hatte.
Was dieses Buch von anderen Künstlerbiografien unterscheidet, ist seine bewusste Reduktion auf Fotos. Es geht nicht darum, Turners Biografie zu erzählen. Es geht darum, sie als Künstlerin, Frau und Mensch nahbar zu machen. Es geht nicht um die Bühnenshows, es geht um persönliche Momente, für die es in der Öffentlichkeit keinen Platz gibt. Lindberghs Sicht vermeidet Klischee und Idealisierung. Er gibt der Authentizität eine Bühne.
In manchen Momenten wirkt Tina Turner verletzlich, beinahe zerbrechlich. In anderen strahlt sie eine körperliche und geistige Kraft aus, die geradezu überwältigt. Aus Lindberghs Arbeitsweise erfährt der Betrachter, dass die Sängerin für jeden Spaß zu haben war und ihn bedingungslos mitmachte. Sie selbst bezeichnete die Zusammenarbeit als Komplizenschaft, aus der Zauberhaftes entstanden sei. Sie sagte: „Peter wusste, dass ich ein bisschen ein Wildfang war, also waren wir Komplizen. Er war bereit, alles zu versuchen, und ich auch! Gemeinsam haben wir Magie geschaffen!“
Lindbergh ist Meister der Schwarz-Weiß-Fotografie
Alles begann in Paris im Jahr 1989, darunter ikonische Aufnahmen auf dem Eiffelturm und persönliche Szenen in Straßencafés. Diese Session gilt als der künstlerische Auftakt ihrer langjährigen Zusammenarbeit. Aufnahmen entstanden direkt an der metallenen Konstruktion des Eiffelturms mit Paris im Hintergrund. Lindbergh als Meister der Schwarz-Weiß-Fotografie setzt Konturen, Texturen und das Zusammenspiel von Kontrast der technischen Konstruktion des Turms und der körperlichen Eleganz gegeneinander, wodurch eine einzigartige Wirkung entsteht. Tina Turner trägt ein figurbetontes, kurz geschnittenes Kleid mit feinem Netzstrukturmuster, kombiniert mit Netzstrumpfhosen. Das Ensemble betont ihre kraftvolle Haltung und vermittelt gleichzeitig eine gewisse Leichtigkeit. Aufnahmen mit dem Modedesigner Azzedine Alaïa am Set finden sich ebenfalls im Buch. Er war maßgeblich in das kreative Setting eingebunden, nicht nur als Designer, sondern als Freund und künstlerischer Weggefährte. Das von ihm geschaffene figurbetonte Kleid wurde zum Markenzeichen dieser Fotografie am Eiffelturm. Es war knapp geschnitten, kraftvoll und zugleich sinnlich.
Bei der technischen Inszenierung des „Kletter-Eindrucks“ gab es keine sichtbaren Sicherheitsvorkehrungen wie ein Seil. Angeblich bestand Tina Turner darauf, die hochhackigen Schuhe während der Aufnahme zu tragen. Die Balance zwischen Realität und Dramatisierung entsteht durch einen geschickt gewählten Kamerawinkel. Der Standpunkt ist so gewählt, dass sie scheinbar hoch oben klettert, obwohl sie sich tatsächlich nur in geringem Abstand über einer Plattform befindet. Die Illusion größerer Höhe wird so verstärkt.
Obwohl das physische Risiko gering war, vermittelt das Foto durch die sorgfältige Zusammensetzung von Perspektive, Tiefenschärfe und Bildausschnitt eine dramatische Höhe. Die perfekte Inszenierung eines Zufalls.
Der vollständigen Text lesen Sie in der Ausgabe „USA: Wenn nichts mehr sicher ist!
Bernd Lammel
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