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UTOPIE Verkehrswende
YouTube-Kanal Jung und gar nicht naiv
Foto © Bernd Lammel
Fakten vs. Meinung

YouTube-Kanal Jung und gar nicht naiv 

Tilo Jung erreicht mit seinem YouTube-Kanal Jung & Naiv – Politik für Desinteressierte, Millionenklicks. Davon träumen die klassischen Medien. Er ist 30 Jahre alt, Mitglied der Bundespressekonferenz und einer der bekanntesten YouTuber in der politischen Berichterstattung Deutschlands. Ohne jede Berührungsangst interviewt er Bundes- und EU-Politiker, Regierungssprecher, Minister, Staatssekretäre, Parteivorsitzende, Diplomaten und bringt viele mit seinen naiven Fragen in Erklärungsnot. Kompromisslos sendet er, was seine Interviewpartner sagen und lehnt Autorisierungen grundsätzlich ab. Die, die mit ihm reden, müssen also wissen, worauf sie sich einlassen.

? Tilo, Du bist im Februar 2013 mit Jung und Naiv – Politik für Desinteressierte auf YouTube gestartet. Sollte Dein Interviewportal aber nicht besser Jung und Provokant heißen?

! Wieso? Ich stelle junge und naive Fragen. Wenn sich jemand provoziert fühlt, ist das sein Problem.

?  Es gibt Journalisten, die bezeichnen Dich als unverfroren, respektlos, penetrant, hartnäckig, unverschämt. Welche dieser ­Jacken ziehst Du Dir an?

! Wahrscheinlich alle. Ich will nicht bequem sein.

?  Was verbindest Du mit der Bezeichnung Qualitätsmedien?

! Wenig. Die Qualitätsmedien sind für mich die alten Medien, die sich einbilden, nur sie böten Qualität. Doch ob jemand Qualität liefert, liegt für mich im Auge des Betrachters. Das muss nicht der Spiegel, die FAZ, das öffentlich-rechtliche Fernsehen oder das Radio sein. Auch wir können unseren Zuschauer Qualitätsjournalismus bieten. In der Regel liefern die, die sich Qualitätsjournalisten nennen, immer mehr Quantitätsjournalismus, den sie als Qualitätsjournalismus verkaufen. Nicht jede neue Information, nicht jedes neues Politikerzitat ist eine Nachricht.

? Was liest, hörst oder siehst Du am Morgen, um Dir einen Überblick über die aktuelle Nachrichtenlage zu verschaffen?

! Ich informiere mich sehr viel über Twitter, lese dort, was die Leute, die ich für relevant halte, twittern. Ab und zu lese ich auch den dpa-Ticker, weil dort vieles über die Arbeit der Bundesregierung gemeldet wird, was für meinen Job wichtig ist. Ich informiere mich nicht über Google-Schlagzeilen oder Nachrichtenplattformen.

? Du bist also nicht an der Meinung anderer Medien interessiert, sondern an relevanten Infos und Fakten?

! Eine Meinung versuche ich mir allein bilden, dafür brauche ich nicht die Meinung der Qualitätsjournalisten.

? Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat 2014 im Feuilleton ein ausführliches Interview abgedruckt, das Du mit dem Enthüllungsjournalisten Glenn Greenwald geführt hast. War das für Dich ein Ritterschlag – die FAZ gibt einem YouTuber so eine Plattform?

! Das Interview lief zuerst im Fernsehen auf joiz in gekürzter Fassung. Am nächsten Tag druckte es die FAZ ab. Gleichzeitig haben wir das ungekürzte Gespräch auf Youtube veröffentlicht. Für diese Chance, dass Passagen des Interviews mit Glenn auch in der FAZ zu lesen waren, bin ich Frank Schirrmacher noch heute sehr dankbar.

? Also doch ein Ritterschlag?

! Vielleicht. Ich fand es konsequent, dass die FAZ neue Wege ging, als das Thema Geheimdienste und Glenn Greenwald, der für den Guardian die Snowden-Dokumente aufarbeitet, relevant wurde. Frank Schirrmacher erkannte das und gab uns die Chance, das Interview auch in der FAZ abzudrucken. Ein Ritterschlag war für mich eher die Nominierung zum Deutschen Fernsehpreis. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet, umso mehr hat es mich erfreut.

Der schnelle Erfolg ist die Ausnahme

? Du bekamst schon ein Jahr, nachdem Du mit Jung & Naiv gestartet bist, dafür den Grimme Online Award. Wie erklärst Du Dir diese Turbo-Auszeichnung *?

!  Offenbar gibt es immer noch wenige junge Journalisten, die mit Medien anders umgehen. Oder sie trauen sich nicht, neue Wege zu gehen und eigene Ideen umzusetzen. Es fehlt vielen auch an Ausdauer, denn oft kommt der Zuspruch für neue Projekte schleppend. Der schnelle Erfolg ist die Ausnahme. Vielleicht ist der Jury aufgefallen, dass ich mich trotzdem traue.

? Hat Dir der Grimme Online Award Türen geöffnet?

! Nicht wirklich. Ich erwähne den Preis zwar ab und zu in meinen Interviewanfragen und merke auch, dass das manche beeindruckt, aber viele eben nicht.

? Wenn Du in Deinen Interviews Ministern, Parteivorsitzenden und Regierenden – jung und natürlich völlig naiv – auf den Zahn fühlst, kannst Du da jedweden Widerspruch Deinerseits oder Empörung über das Gesagte unterdrücken?

! Ich empöre mich und kritisiere laufend – allerdings durch die Blume. Der Zuschauer merkt meist, dass ich mit meinen Fragen ein Ziel verfolge oder auf eine ganz bestimmte Antwort warte – und die Gesprächspartner merken das natürlich auch. Im Interview mit Kanzleramtsminister Peter Altmaier zum Beispiel war es in den ersten 30 bis 40 Minuten so, dass er mir und der Öffentlichkeit erklären sollte, was überhaupt sein Job ist, welche Aufgaben er hat. In der letzten halben Stunde ging es deshalb um den BND, ausländische Geheimdienste, Edward Snowden und Drohnenmorde. Natürlich war mir klar, dass Altmaier dazu nicht viel sagen wird, aber die meisten Journalisten fragen erst gar nicht danach, weil sie sowieso wissen, dass er solche Fragen nicht beantwortet. Keine Antwort ist oft auch entlarvend.

? Dürfen Deine Interviewten denn schon vor dem offiziellen Sendetermin mal drauf gucken?

! Auf keinen Fall. Das ist eine absolut deutsche Unart. Jung & Naiv sendet vom ersten Hallo bis zum letzten Wort das gesamte Gespräch in voller Länge. Es wird nichts geschnitten, deshalb kann es auch keine Diskussionen geben.

Jung & Naiv, schon im Namen ist der ganze Anspruch enthalten

? Kurz vor der Bundespressekonferenzim September 2015, das Mikrofon war schon an, lästerte der Sprecher des Auswärtigen Amtes, Schäfer, gemeinsam mit Regierungssprecher Seibert über Deinen rosa Pullover, dessen Farbe Seibert immerhin „ lebensbejahend“ fand. Comedian Oliver Polak teilte in der Welt so aus: „Ich glaube, Du bist einfach nur, ähm, wie soll ich sagen, sehr, ähm, wie war das Wort nochmal, ah ja – dumm.“Wie gehst Du mit solchen Beleidigungen um?

! Mit Humor. Solche Aussagen sagen viel mehr über die Leute selbst aus als über mich. Wer meint, Jung & Naiv oder Tilo Jung seien dumm, ist in eine Falle getappt. Die Sendung heißt Jung & Naiv, und schon im Namen ist der ganze Anspruch enthalten. Ich stelle naive Fragen, die natürlich manchmal als dumm rüberkommen. Andere finden, dass ich keinen Journalismus mache. Was für ein Vorwurf, da könnten sie auch eine Comedy-Serie kritisieren, weil sie lustig ist.

? Und wie kommst Du mit Regierungssprecher Seibert sonst so klar?

! Mein 63. Interview führte ich mit ihm, da war ich aber noch nicht Mitglied der Bundespressekonferenz und Seibert dachte damals wohl noch, dass Internet und twitter irgendwie cool wären. Wir haben uns prima verstanden.

? Und jetzt nicht mehr?

! Ich glaube, er hat durch mein Mitwirken in der Bundespressekonferenz (BPK) für Jung & Naiv oder mich inzwischen nicht mehr so viel übrig. Dabei war es Seibert, der mich auf die Idee brachte, Mitglied der BPK zu werden. Er erzählte mir im besagten Interview 63, dass die Regierung dreimal pro Woche in die BPK geht und sich dort den Fragen der Journalisten stellt und ich könne dort auch Mitglied werden. Vielleicht ärgert er sich heute, dass er mir den Tipp gegeben hat.

Journalisten brauchen Zitate von Politikern für ihren Beitrag

? Nervst Du denn dort ständig mit provokanten Fragen?

! Klar. Und nicht nur die Politiker und deren Sprecher, sondern auch einige Journalistenkollegen. Doch das gehört für mich dazu, das macht mir nichts aus.

? Beschreib doch mal die Atmosphäre in der BPK, die zwischen den Journalisten und den Politikern herrscht.

! Abgeklärt. Geschäftsmäßig. Journalisten brauchen Zitate von Politikern für ihren nächsten Beitrag, Politiker brauchen Journalisten als Überbringer ihrer Botschafter ans Volk.

? Fragt keiner mal kritisch nach – so wie Du?

! Natürlich, viele. Aber ich sehe selten, dass sich das in den Nachrichten niederschlägt. Wir machen Journalismus anders, stellen unsere Interviews und die  BPK Eins zu eins ins Netz. Phoenix schneidet auch alles mit und könnte die BPK zum Beispiel abends senden. Ich bin überzeugt, die Leute würden das einschalten, Jung & Naiv ist ja das beste Beispiel dafür. Aber die Sender machen alles wie immer und wundern sich, dass sie weniger Erfolg haben.

Bei Youtube liegen die Aufrufe bei etwa zehn Millionen

? Wer guckt sich denn Deine Interviews lieber an: Interessierte oder Desinteressierte.

! Die Zahlen auf Facebook oder die Klickzahlen auf YouTube belegen das eindeutig. Einerseits gucken mir intelligente Menschen beim Fragen zu, weil sie das Format spannend finden. Andererseits sitzen auch die weniger interessierten User von Anfang bis Ende vor dem Monitor und lassen sich von mir mitnehmen.

? Bei wem zum Beispiel?

! Das Interview mit Bodo Ramelow, Ministerpräsident von Thüringen, dauerte anderthalb Stunden und 60 Prozent der Zuschauer sahen es sich bis zum Ende an. Davon träumen die Öffentlich-Rechtlichen bestimmt und auch manche Privatsender.

? Kommentieren die User bei YouTube oder Facebook Deine Interviews?

! Ohne Ende und von allen Seien. Häufig leider auch mit rechter Hetze! Solche Einträge löschen wir sofort.

? Wie viele Interviews hast Du in den vergangenen drei Jahren geführt?

! 252.

? Wie viele haben zugeguckt?

! Bei Youtube liegen die Aufrufe bei etwa zehn Millionen, dort haben wir über 60 000 Abonnenten. Bei Facebook sind wir in der Regel auf dem gleichen Niveau mit der Tagesschau, Extra3 und der Heute Show und erreichen wöchentlich im Schnitt vier bis fünf Millionen Menschen auf Facebook. Im Sommer 2015 waren es sogar neun Millionen.

? Wen möchtest Du unbedingt mal interviewen?

! Merkel, Obama und Putin. Alle drei zusammen.

? Kannst Du von Deiner Arbeit leben?

! Ja, durch das Crowdfunding immer besser. Im Abspann eines jeden Interviews sind alle User aufgezählt, die unsere Arbeit mit mehr als 20 Euro unterstützt haben. Im Dezember waren es zum Beispiel über 500.

*Aus der Begründung der Jury: Das grenzenübergreifende Konzept von „Jung & Naiv“ belegt, wie man im heutigen Newsgeschäft mit aktuellen Themen, geringen Mitteln und hohem persönlichen Einsatz den Spagat vom Bottom-up- zum Top-down-Medium schaffen kann. Und damit gleichzeitig in Web, Print und TV relevante Inhalte vermittelt.

Das Gespräch führten:

Bettina Schellong-Lammel

Heide-Ulrike Wendt

Jung & Naiv – Politik für Desinteressierte

www.jungundnaiv.de

 

 

*Aus der Begründung der Jury zum Grimme Online-Award: Das grenzenübergreifende Konzept von „Jung & Naiv“ belegt, wie man im heutigen Newsgeschäft mit aktuellen Themen, geringen Mitteln und hohem persönlichen Einsatz den Spagat vom Bottom-up- zum Top-down-Medium schaffen kann. Und damit gleichzeitig in Web, Print und TV relevante Inhalte vermittelt.

 

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