Während der Präsident der USA seine Weltsicht auf 140 Zeichen verkürzt, ist ausgerechnet ein TV-Sender im Nahen Osten längst viel weiter: Katar, das kleine Land am Persischen Golf, hat neben den fossilen Energievorkommen einen neuen Rohstoff entdeckt, den die ganze Welt in Zeiten des Umbruchs der Gesellschaften braucht: fundierte Nachrichten. Als große international agierende TV-Kanäle nach der Internetblase Anfang des Millenniums und der globalen Finanzkrise am Ende des ersten Jahrzehnts der 2000er-Jahre ihre Korrespondenten zurückholten, Büros und Sendeplätze schlossen, stieg Al Jazeera 2007 mit dem englischen Kanal des Nachrichtensenders ein. Zehn Jahre, in denen viel passiert ist. Zeit für einen Besuch vor Ort.
Kein Fernsehsender hat sich weltweit dynamischer entwickelt als Al Jazeera. NITRO war in Katar und hat das Headquarter in Doha besucht, wo 800 Fernsehjournalisten Global Playern wie CNN und BBC ernsthaft Konkurrenz machen.
Den Kreisel vor dem Sender in Doha kennt jeder, ganz pragmatisch hat man ihn „TV Kreisverkehr“ benannt. Er ist die Zufahrt zu Al Jazeera und gleicht einem Hochsicherheitstrakt. Für die Besucher dreht sich eine Windmaschine, um die Wartezeit in der Sonne bei 35 Grad Celsius erträglich zu machen. Name, Pass, zu wem wollen Sie? Kurz und knapp. Skeptisch blickt ein Uniformierter auf meinen Fotokoffer und den Stativsack. Mein Handy meldet eine SMS. Es ist mein Zugangscode. Nachdem der Wachhabende den Code in seinen Computer eingetippt hat, hellt sich seine Mine auf. Ich werde abgeholt, und wir passieren im Auto mehrere Checkpoints auf dem großen Gelände des Senders und stehen schließlich vor dem Sendezentrum von Al Jazeera English. Letzte Proben für die Zehn-Uhr-Weltnachrichten Newshour laufen, und Anchorwoman Dareen Abughaida rückt ihre Notizen zurecht. Hinter ihr erstreckt sich eine extralange Videowand. Es soll die größte der Welt gewesen sein, als hier der Sendebetrieb 2007 aufgenommen wurde – satte 21 Meter.
Zwei Nachrichtenkanäle sowohl in Arabisch als auch in Englisch
Deutlich größer ist nur noch die im neu eröffneten Sendezentrum von Al Jazeera Arabisch. Das ursprüngliche Studio aus dem Gründungsjahr 1996 hatte dem Anspruch nicht mehr genügt. Und dieser Anspruch ist hoch und global und nicht, wie zuvor in der arabischen Welt üblich, lediglich Regierungs-Bulletins zu verlesen. Al Jazeera stellte das gewohnte Fernsehen auf den Kopf. Mit Erfolg. Der Programm-Chef des englischen Kanals Gilles Trendle wird mir später am Tag eines der Geheimnisse dieses Erfolgs erklären, wie etwa den Verzicht auf die typische Von-oben-herab-Sicht westlicher Medien. „Königliche Hochzeiten und Prominente haben für uns keine Relevanz. Sie stehen auf Priorität fünf bis sechs; sind uns eine kurze Meldung wert. Wir berichten vom sozioökonomischen Klimawandel dieser Welt“, sagt Trendle. (Lesen Sie das gesamte Interview ab Seite 36 oder im Video auf unserer Website.) Wie konnte ein Sender auf der südlichen Welthalbkugel in einem arabischen Emirat in so kurzer Zeit weltweit hunderte Millionen Zuschauer erreichen?
Es begann mit einer Palastrevolution. Der damalige Emir von Katar, Sheikh Hamad bin Khalifa al-Thani, beschloss 1995, seinen Vater, den absoluten Herrscher von Katar, zu stürzen.
Lesen Sie die ganze Geschichte mit der Fotoreportage im neuen NITRO
(…)
Text und Fotos: Bernd Lammel
Bernd Lammel
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