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35 JAHRE MAUERFALL
Medialer Aufbruch vor 35 Jahren
Foto (c) Bernd Lammel
35 Jahre Mauerfall

Medialer Aufbruch vor 35 Jahren 

Von Heiko Hilker

Von außen schien es ­unerklärlich: Medien, denen man vor Monaten nicht getraut hatte, wurden plötzlich massenhaft gelesen, ­gesehen oder gehört. Dabei hatte es in den Redaktionen nur wenige Veränderungen gegeben. Doch im Herbst 1989 reformierten sich viele DDR-Medien schnell und von innen heraus. So war es beim Fernsehen und Radio des staatlichen Rundfunks der DDR wie auch bei Zei­tungen und Zeitschriften.

Linientreue Chefredaktionen wurde ab- und neue Chefredakteure von den Belegschaften demokratisch an die Spitze gewählt. Man gab sich Redakteursstatute, und jüngere Redakteurinnen und Redakteure kamen schnell als Seiteneinsteiger in die Redaktionen. 1990 gründeten sich außerdem in der DDR über 120 neue Zeitungen.

Doch was wurde aus dieser Vielzahl und Vielfalt? Die Medienpolitik unter Helmut Kohl ließ die Marktwirtschaft wirken. Große Westverlage übernahmen die SED-Bezirkszeitungen. Wie neue Monopole, sogenannte Ein-Zeitungs-Kreise, entstanden und die Neugründungen aufgeben mussten, kann man in „Pressefrühling und Profit“ von Mandy Tröger nachlesen.[1]

Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk wurde zum 1. Januar 1992 das etablierte BRD-System durchgesetzt. Die reformierten DDR-Programme hatten so gut wie keine Chance. Im Einigungsvertrag war festgeschrieben, dass diese zum 31. Dezember 1991 aufzulösen seien. DT64, das ostdeutsche Jugendradio, gewann damals Zeit, weil Zehntausende auf den Straßen demonstrierten, 300.000 Unterschriften sammelten und Mahnwachen initiierten. Der Berliner Rundfunk wurde privatisiert, der Deutschlandsender Kultur in Deutschlandradio integriert. Eine relevante ostdeutsche Stimme mit entsprechender Reichweite gab es Mitte 1993 nicht mehr.

Im Herbst vor 35 Jahren wurden der DDR-Rundfunk abgewickelt und ARD-Strukturen (MDR, ORB, NDR) im Osten etabliert. Mehr als 10.000 Journalistinnen und Journalisten konnten nur hoffen, unter westdeutschen Intendanten und Direktoren arbeiten zu dürfen.

Dabei stand das bundesdeutsche öffentlich-rechtliche System 1989 schon stark unter Druck. Es wurden Reformdebatten geführt. Doch anstatt gemeinsam ein neues öffentlich-rechtliches System zu etablieren, wurde das westdeutsche System den ostdeutschen Ländern übergestülpt. Das ZDF dehnte sich aus, die ostdeutschen Länder mussten ARD-Anstalten gründen. Die SED-Bezirkszeitungen wurden an finanzstarke westdeutsche Verlage verkauft.

Die Sender, Zeitungen und Zeitschriften, die durch ihre Belegschaften reformiert wurden, hatten keine Chance. Sie wurden übernommen und angepasst oder aufgelöst. Was hätte es den Westdeutschen geschadet, „Originalton Ost“ zu hören? Doch darum ging es wohl gar nicht in erster Linie. Es ging vor allem um die Pressefreiheit. Die Debatte darum wurde mit einem Schlag erledigt.

Bis heute besteht auch kein Interesse daran, die damaligen Erfahrungen noch einmal zu thematisieren. Während man seit Jahrzehnten aus fast jedem Ereignis der Jahre 1989 und 1990 einen Jahrestag generiert, Veranstaltungen organisiert und darüber berichtet, hat die innere Reform der DDR-Medien im gesellschaftlichen Diskurs keinen Platz. Nicht einmal in den Jubiläumsdiskursen kommt sie vor. Die Rolle der DDR-Medien in den Jahren 1989 und 1990 wird so gut wie nie thematisiert. So wird ausgeblendet, wie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich erkämpften, Intendanten selbst zu wählen, wie sie von sich aus die Grundlagen für die innere Pressefreiheit selbst legten und ihre Programme teilweise selbst organsierten.

Alle Erfahrungen jener wenigen Monate des medialen Aufbruchs und der journalistischen Selbstbestimmung, unter welchen Bedingungen Medien gesellschaftlich relevant und Journalismus in der Bevölkerung verankert sein können, was Medien in Phasen des gesellschaftlichen Wandels leisten können, werden in den aktuellen Reformdebatten ausgeblendet.

Doch wer verknöcherte Strukturen reformieren will, sollte nicht nur neue Technologien und Publikums- und Zukunftsdialoge als Heilsbringer sehen. Damit allein ist gesellschaftlich relevanter Journalismus nicht möglich.

Ein Blick zurück könnte offenbaren, unter welchen Voraussetzungen Medien der öffentlichen und individuellen Meinungs- und Willensbildung, also der Demokratie, dienen können. Nicht alles muss neu erfunden werden. Oftmals hilft es mehr, sich auf seine Wurzeln zu besinnen.

In den vergangenen Jahren wurden die Medien zunehmend kritisiert, darunter auch die öffentlich-rechtlichen Sender. Es wird gefragt, wie sie wieder an Akzeptanz gewinnen können.

Wenn wir auf die Ereignisse von 1989 und 1990 blicken, können wir uns fragen, wieso Medien, deren Aufgabe es war, Agitatoren, Propagandisten sowie kollektive Organisatoren zu sein, und die nur über ein geringes Maß an Rückhalt in der Bevölkerung verfügten, innerhalb kürzester Zeit massiv an Glaubwürdigkeit und Reichweite gewinnen konnten. Was waren die wesentlichen Veränderungen, die dazu führten? Wieso konnte sich das DDR-Mediensystem 1989 so schnell und nahezu von innen heraus reformieren? Warum und wie schaffte man es, Reichweite und Zuspruch in hohem Umfang zu generieren, obwohl man doch vorher nur über geringe Reichweite und Glaubwürdigkeit verfügte?

Es war beeindruckend zu sehen, wie Journalistinnen und Journalisten, die durch die Schule des DDR-Journalismus gegangen waren, in der Lage waren, relevanten Journalismus zu machen, der Anerkennung und Zuspruch in der Bevölkerung fand und dessen Reichweite wuchs. Offensichtlich verfügten sie über eine qualitativ hochwertige Ausbildung. Sie waren in der Lage, professionell journalistisch zu arbeiten. Das galt für viele der Zeitungen, Radio- und Fernsehangebote.

Die Veränderungen beruhten im Wesentlichen auf zwei Säulen. Zum einen waren es die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die weitgehend über die Inhalte bestimmten. Zum anderen hatten sie eine starke Rückkopplung in die Gesellschaft, in die Bevölkerung. Sie griffen die Themen auf, die relevant waren, bereiteten diese auf, trugen sie an die Regierenden heran und spiegelten deren Reaktion entsprechend.

Und sie arbeiteten die Informationen und Hintergründe zu Meinungsverschiedenheiten in einer Tiefe und Qualität auf, die so weit wie möglich ihrer Komplexität gerecht wurde. Je schwieriger, je komplexer eine Frage war, umso notwendiger war ihre inhaltliche Aufbereitung – und dies in der Vielfalt der in der Gesellschaft bestehenden Wertungen, Erfahrungen etc. So wurde man dem selbst gestellten Vielfaltsauftrag gerecht.

Damit kamen DDR-Radio und -Fernsehen Brechts Radioutopie sehr nahe, als er vor fast 95 Jahren das Potenzial des Radios beschrieb: „Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen, und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen. Der Rundfunk müsste demnach aus dem Lieferantentum herausgehen und den Hörer als Lieferanten organisieren.“[2]

Doch in der neuen Rundfunkordnung, die von den Bundesländern getragen wurde, war kein Platz für die ostdeutschen Programme. Helmut Kohls Medienpolitik bestand darin, die reformierten DDR-Strukturen zu zerschlagen. Neue ARD-Anstalten wurden auch deshalb geschaffen, um auf einfachem Wege die entstandene Pressefreiheit zurückzunehmen und neue Hierarchien zu schaffen.

Das Radio, wie es sich seit Brechts Zeiten Ende der 1920er Jahre bis heute weiterentwickelt hat, hat technisch gesehen nur Tippelschritte in Richtung seiner Utopie ermöglicht: Hörerinnen und Hörer können sich per Telefon in speziellen Call-in-Programmen zu Wort melden. Dann nehmen sie zeitweise live an im Radiostudio geführten Diskussionen teil. Radioredakteure moderieren den Austausch, teilen das Wort zu. Die Hörerinnen und Hörer sind für einige kurze Wortwechsel ein paar Minuten auf Sendung und können mit Experten, Wissenschaftlern, Politikern, Künstlern oder Sportlern debattieren – gelegentlich auch mit einem anderen Anrufer, der noch in der Leitung ist, also mit ihresgleichen. Diese Runden bieten selten einen Mehrwert, vor allem, wenn sie nicht redaktionell gut vorbereitet sind.

Die digitalen sozialen Netzwerke ermöglichen heute allerdings eine andere Dialogfähigkeit. Damit setzen sie Standards und wecken Erwartungen. Es werden gerade solche (Internet-)Medien von Nutzerinnen und Nutzern als modern, partizipativ und demokratisch empfunden, die sich nicht als reine Distributionsmedien betätigen, sondern die Userin/den User einbeziehen, sie beteiligen, nach der persönlichen Meinung fragen und sich dann auch diesem kritischem Urteil über die Inhalte stellen.

Mit seiner Radiotheorie wollte Bertolt Brecht vor fast 95 Jahren „nur den prinzipiellen Vorschlag formulieren, aus dem Rundfunk einen Kommunikationsapparat öffentlichen Lebens zu machen.“[3]  Was hatte Bertolt Brecht gefordert? „Der Rundfunk müsste demnach aus dem Lieferantentum herausgehen und den Hörer als Lieferanten organisieren.“[4]  Eine wahrhaft große Aufgabe für ARD, ZDF und Deutschlandradio. Sehen sie diese Aufgabe überhaupt? Derzeit wollen die ARD-Intendantinnen und -Intendanten vor allem sparen. Auch am Radio. Von 20 bis 6 Uhr sollen Gemeinschaftsprogramme gesendet werden. Man will vor allem die Radio-Prime-Time finanzieren. Die vielen Hörerinnen und Hörer, die abends oder nachts einschalten, sind ihnen egal. Denen sollen Einheitsprogramme geboten werden. (Immerhin hören um 20 Uhr noch etwa fünf Millionen Menschen Radio, gegen 22 Uhr sind es noch 2,5 Millionen.)

1989 hat gezeigt, dass und wie eine Reform möglich ist. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen die Freiheit haben, professionell Programm machen zu können. Für und mit ihrem Publikum. Brecht war der Meinung: „Undurchführbar in dieser Gesellschaftsordnung, durchführbar in einer anderen …“[5]  Doch was hieße das, wenn es schon heute möglich ist?

1        Mandy Tröger: Pressefrühling und Profit. Wie ­westdeutsche Verlage 1989/1990 den Osten ­eroberten, Herbert von Halem Verlag. 2019.

2        Ebd., S. 129

3        Bertolt Brecht: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. Rede über die Funktion des Rundfunks. Gesammelte Werke 18, S. 133, Suhrkamp, 1967.

4        Ebd., S. 129.

5        Ebd., S. 134.

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