Vor knapp zehn Jahren hielt eine kleine Bergregion im Westen des Iraks die Welt in Atem. Der „Islamische Staat“ hatte sich auf den Weg gemacht, seinen Eroberungsfeldzug in Richtung Sinjar fortzusetzen. Das Ziel? Die Eroberung der Region und die Vernichtung der jesidischen Glaubensgemeinschaft, die ihr Hauptsiedlungsgebiet in Sinjar hat. Heute ist wenig von der internationalen Aufmerksamkeit übriggeblieben. Wie ist die Situation in Sinjar heute? Wie geht es den Menschen, die dortgeblieben sind? Und warum wissen wir heute so wenig darüber?
von Franziska Jostmeier
Es ist der 8. März 2024, ein frühlingshafter Tag. Nach dem kalten und regenreichen Winter färben sich die vertrockneten Berge langsam grün. Im April und Mai sind sie von bunten Blumen bedeckt. Es ist die beliebteste Jahreszeit in Sinjar – oder wie die Menschen dort sagen Shengal –, einer Region im Westen des Iraks.
Auf einem Platz inmitten dieser Berge ist eine Bühne aufgebaut. Gelb-weiße Plastikblumen, ein großes lila Tuch und weiße und lila Luftballons sollen ihr einen feierlichen Anstrich geben. Eine Gruppe junger jesidischer Frauen tritt auf. Alle tragen traditionelle weiße Kleider mit weiten, bis zum Knie hängenden Ärmeln und einem schwarzen Tuch um die Taille. Sie singen Lieder über die Liebe zu Sinjar, die Kraft der Frauen und die Notwendigkeit zum Widerstand. Vor der Bühne tanzen dutzende Frauen traditionelle Kreistänze dazu. Alle haben sich schick gemacht. Viele jesidische Frauen tragen wie die Gesangsgruppe traditionelle weiße Kleider, viele der arabischen Frauen sind in schwarzen Kleidern gekommen, andere tragen Rot, Rosa, Grün, Orange, Lila. Immer wieder schallt ein lautes „Jin, Jiyan, Azadî“ auf Kurdisch oder „Al-mara’a, al-haya, al-huriya“ auf Arabisch durch die Reihen. Spätestens seit der Ermordung Jina Masha Aminis und den Aufständen im Iran im Jahr 2022 ist der Slogan „Frau, Leben, Freiheit“ als Symbol für den Kampf von Frauen gegen Gewalt und Unterdrückung in die ganze Welt gezogen. Die Stimmung ist feierlich, harmonisch, friedlich. Dass jesidische und arabische Frauen in Sinjar jetzt gemeinsam den 8. März als Internationalen Frauentag begehen, ist keine Selbstverständlichkeit.
Mädchen als Sexsklavinnen verkauft, Jungen als Kindersoldaten
Vor knapp zehn Jahren, im August 2014, waren die Berge, in denen heute gemeinsam gefeiert wird, Zufluchtsort für hunderttausende Menschen, darunter vor allem Jesiden, die vor dem Überfall des „Islamischen Staats“ (kurz: IS) fliehen mussten. Das Jesidentum ist eine der ältesten Religionen der Welt, die viele Elemente der Naturreligionen bis heute beibehalten hat. Darin blicken Jesiden auf eine lange Geschichte von Verfolgung zurück. Sie selbst sprechen von 74 Völkermorden an ihrer Gemeinschaft. So auch 2014, als Tausende von den Dschihadisten, die Jesiden als Ungläubige sehen, ermordet und in über 90 Massengräbern verscharrt wurden. Andere wurden verschleppt, Mädchen als Sexsklavinnen auf Märkten verkauft und Jungen als Kindersoldaten für Attentate des IS zwangsrekrutiert.
Unterstützung bekam der IS dabei von einem Teil der sunnitisch-arabischen Bevölkerung, die vor 2014 zum Teil Tür an Tür mit jesidischen Familien gelebt hatte. Bis heute befinden sich circa 2 800 Jesiden, der Großteil davon Frauen und Kinder, in Gefangenschaft des IS. 200 000 Menschen, die aus Sinjar geflohen sind, leben noch immer in Geflüchteten-Camps im Nordirak. Große Teile der Region, darunter sowohl Tempel als auch Wohnhäuser, sind nach wie vor zerstört. Die Gebäude des ehemaligen Marktes in Sinjar-Stadt, dessen militärische Befreiung vom IS elf Monate dauerte, liegen in Schutt und Asche, der Boden voller Patronenhülsen. Der Wiederaufbau geht nur langsam voran.
Jesidische Frauen spielen eine wichtige Rolle im Wiederaufbau
Im Januar 2023 erkannte der Deutsche Bundestag die Angriffe des „Islamischen Staats“ auf die jesidische Gemeinschaft in Sinjar offiziell als Völkermord an. So heißt es im beschlossenen Antrag unter anderem: „[Der Bundestag] erkennt das Leiden, das durch die Verbrechen der Terrororganisation IS für Hunderttausende von Menschen verursacht wurde, an und würdigt den Widerstand unzähliger Menschen in der Region.“ Auch „das besondere Engagement der Frauen bei der Bewältigung und Aufarbeitung der Gräueltaten des IS“ bekommt im Beschluss besondere Aufmerksamkeit.
Für die jesidische Gesellschaft spielen Frauen eine wichtige Rolle im Wiederaufbau Sinjars. Das zeigt sich unter anderem in der Gründung von TAJÊ, der Freiheitsbewegung jesidischer Frauen, die mit anderen die Feierlichkeiten zum 8. März organisiert. TAJÊ vereint seit 2016 jesidische Frauen aus der gesamten Region in Räten und Komitees, die sich zum Beispiel in den Bereichen Wirtschaft, Gesundheit, Bildung, Kunst, Kultur und Diplomatie organisieren. Es gibt enge Beziehungen zu arabischen Frauen, die ebenfalls angefangen haben, sich in Räten zusammenzuschließen. TAJÊ ist darüber hinaus ein Organ, das die politischen Forderungen der Frauen in Sinjar nach außen tragen will. So erklärte Suham Dexîl Reşo, Überlebende des Genozids von 2014 und Mitglied von TAJÊ, bei einer Konferenz im EU-Parlament im Januar 2023: „Heute gibt es in Shengal ein Modell, das alle Menschen in der Region umfasst. Nach 74 Genoziden ist es das Recht der Jesiden, sich selbst zu verteidigen und selbstbestimmt zu leben.“
Der Weg der Frauen in Sinjar, ein ersehnter Hoffnungsschimmer
Gemeinsam mit ihr ist auch Suad Murad Khalaf nach Brüssel gereist. Auch sie lebt bis heute in Sinjar. Ihre Geschichte ist bewegend. 2019 war sie in dem preisgekrönten Dokumentarfilm „Hêza“ (Kurdisch für „Kraft“) auf der Leinwand zu sehen. Als der IS 2014 die ersten Dörfer angriff, wurde Suad Murad gemeinsam mit anderen Familienmitgliedern nach Raqqa verschleppt und dort auf dem Markt an Mitglieder des IS verkauft. Sie wurde mehrfach vergewaltigt und weiterverkauft, bevor sie 2015 befreit wurde und nach Sinjar zurückkehrte. Heute ist sie Kommandantin der YJŞ, einer 2015 gegründeten militärischen Fraueneinheit, die sich am militärischen Kampf gegen den IS beteiligte und den Anspruch hat, die Gesellschaft in Sinjar zu schützen.
Der Weg der Frauen in Sinjar, auf dem sie ihren Schmerz in Kraft verwandeln, klingt wie ein lang ersehnter Hoffnungsschimmer in Zeiten, die von Kriegen und Krisen geprägt sind. Wie kommt es, dass die mediale Berichterstattung darüber so nischenhaft bleibt? Ist Krieg interessanter als Frieden? Oder widerspricht das Friedensprojekt in Sinjar zu sehr dem Bild vom „chaotischen Nahen Osten“? Die Antworten mögen vielfältig sein. Zentral ist dabei sicher auch der Bezug der Frauenorganisation in Sinjar zu den Vorschlägen Abdullah Öcalans, dem Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans, kurz PKK, die in Deutschland seit 1993 verboten ist.
Um diesen Bezug zu verstehen, braucht es einen Blick in die jüngere Geschichte. Sinjar zählt seit dem Irakkrieg 2003 zu den „umstrittenen Gebieten“. Dabei handelt es sich um Gebiete, bei denen nicht final geregelt wurde, ob sie unter der Verwaltung des irakischen Zentralstaats in Bagdad oder der Autonomen Region Kurdistans in Erbil/Nordirak stehen. Als der IS 2014 die ersten Dörfer in Sinjar überfiel, fühlten sich weder Bagdad noch Erbil verantwortlich, die Menschen dort zu schützen. Sowohl 12 000 Peschmerga der im Nordirak regierenden KDP als auch 6 000 stationierte irakische Polizisten verließen Sinjar bereits in den ersten Tagen des Angriffs.
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