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Fotografie
Foto-Archive retten: Warum das fotografische Erbe uns alle angeht
Foto: Denis Brudna
FOTOGRAFIE authentisch oder generiert?

Foto-Archive retten: Warum das fotografische Erbe uns alle angeht 

Der beste Moment, etwas zu tun, ist immer jetzt, auch wenn es längst fünf nach zwölf ist. Hunderte fotografische Archive – Lebenswerke von Fotografinnen und Fotografen in Deutschland – drohen zerstört zu werden. Was verloren ginge, ist nicht nur eine Bilderflut, sondern unser kulturelles Gedächtnis, unsere gelebte Geschichte, unsere Identität.

Von Julia Laatsch

Fotografie ist mehr als ein technisches Medium – sie ist Kulturgut. Sie dokumentiert soziale Bewegungen, Alltag, Proteste, Migration, Mode, Menschlichkeit – und das in einer Direktheit, wie es nur die Fotografie kann. Ganze Archive bergen einzigartige Einblicke in regionale, persönliche und gesellschaftliche Entwicklungen. Wenn sie verschwinden, verschwinden auch jene Perspektiven, die nie Eingang in offizielle Geschichtsschreibung fanden.

Analoge Fotografie: Mehr als Nostalgie

Ein wichtiger Meilenstein: Auf Antrag des Deutschen Fotorats hat die UNESCO-Kommission in Deutschland die analoge Fotografie als immaterielles Kulturerbe anerkannt. Damit wird offiziell gewürdigt, was viele längst wissen: Fotografie ist lebendiges Erbe. Sie basiert auf kamerabasierten Verfahren und lichtempfindlichem Material – eine jahrhundertealte Technik, die weitergegeben werden muss. Der Deutsche Fotorat wird sich darüber hinaus im nächsten Schritt für die internationale Anerkennung der analogen Fotografie einsetzen.

Diese Anerkennung verpflichtet. Denn wenn analoge Fotografie als Kulturerbe gilt – wer sorgt dann dafür, dass dieses Erbe nicht verloren geht?

Wer rettet? Wie und Wann?

Wir. Alle gemeinsam: Fotografen, Erben, ­Archive, Initiativen – und alle, die kulturelle Vielfalt bewahren wollen.

Um zu verstehen, wie es um das fotografische Erbe steht, hat die Arbeitsgruppe Fotografisches Erbe im Deutschen Fotorat zum Jahreswechsel 2023/2024 eine deutschlandweite Umfrage durchgeführt. Über 1000 Fotoschaffende beteiligten sich anonym. Ziel war es, herauszufinden, ob und wie sich Fotografen mit der dauerhaften Bewahrung ihres Werkes auseinandersetzen. Ergebnis: Der Wille ist da – aber die Strukturen fehlen.

Die Ergebnisse zeigen deutlich

Über 85 Prozent der Fotografen ist die dauerhafte Bewahrung ihres fotografischen Lebenswerks „wichtig“ oder „sehr wichtig“.Gleichzeitig haben über 83 Prozent noch keine Institution gefunden, die Interesse an ihrem Werk zeigt. Nur etwa 30 Prozent erwarten, mit der Übergabe ihres ­Archivs überhaupt Einnahmen zu erzielen.

Die Probleme sind konkret

Laut unserer Umfrage beträgt der durchschnittliche Umfang eines Archivs 3 327 analoge Abzüge, 49 431 Negative, 23 812 Dias und beachtliche 104 687 digitale Aufnahmen. Mit der Digitalisierung sind nicht nur hohe Kosten verbunden, sondern oftmals auch die pure Überforderung.

Die Herausforderungen liegen auf der Hand: Überforderung bei Erben, fehlende Systematik, mangelnde Beschriftung von Negativen, technische Schnelllebigkeit und eine extrem heterogene Archivlandschaft ohne zentrale Ansprechpartner. Und alle haben eines gemeinsam: ihnen fehlt neben allen anderen Herausforderungen im Leben oft einfach die Zeit, sich in die Bilderfluten zu stürzen. Hinzu kommt, dass Dritte häufig nicht in der Lage sind, Fotos aus Archiven eindeutig zu identifizieren, es fehlen Know-how und technische Standards. Daher ist es gerade jetzt enorm wichtig zu handeln, bevor zahlreiche Fotografen als Zeitzeugen ihr Lebenswerk hinterlassen.

Praktische Hilfestellung: Fragenkatalog für die Archivarbeit

Zur Unterstützung in der Praxis hat der Deutsche Fotorat einen umfangreichen Fragenkatalog für Fotografen, Erben und Nachlassverwalter erstellt. Er steht auf der Website des Fotorats zur Verfügung https://deutscher-fotorat.de und dient als Werkzeug zur Vorbereitung auf Archivgespräche oder zur systematischen Aufarbeitung von Beständen. Erfasst werden unter anderem Lebenslauf, Veröffentlichungen, inhaltliche Schwerpunkte, Zeitraum und Umfang des Archivs, Beschriftungsgrad, Digitalisierungsstand, Informationen zu Vintage Prints, rechtliche Fragen sowie besondere Aspekte bei künstlerischer ­Fotografie.

Kapazitäten ermitteln: Umfrage ­unter Archiven und Sammlungen

Parallel läuft aktuell eine Umfrage unter Archiven und Fotosammlungen in Deutschland. Ziel ist es, die vorhandenen Kapazitäten für die Aufnahme weiterer Bestände zu ermitteln.

Zukunftsprojekt: Digitale Plattform zur Sichtung und Sicherung

Ein zentrales Zukunftsvorhaben ist die Schaffung einer digitalen Plattform.Dieses Projekt verfolgt zwei Ziele:

Digitale Sicherung: Für fotografische Bestände, die keinen dauerhaften physischen Aufbewahrungsort finden, bietet die Plattform die Möglichkeit, zumindest die wichtigsten Inhalte digital zu erhalten.

Vernetzung und Sichtbarkeit: Archive, Sammlungen, Fotografen und Nachlassverwalter können hier Bestände vorstellen, potenzielle Übernahmepartner gewinnen oder Informationen zu bewahrungswürdigen Arbeiten erhalten.

Die Maßnahme befindet sich in Vorbereitung. Für eine finanzielle Förderung des Vorhabens hat der Deutsche Fotorat einen Antrag bei der Verwertungsgesellschaft Bild-Kunst gestellt.

Sofortmaßnahmen: Modellversuche zur Rettung gefährdeter Bestände

Ergänzend dazu ist ein Sofortrettungsprogramm in Planung, das sich auf physische Archive konzentriert, die akut von Entsorgung bedroht sind. Ziel ist es, diesen Beständen innerhalb eines Jahres eine Perspektive zur dauerhaften Bewahrung zu bieten. Sollte in diesem Zeitraum keine Lösung gefunden werden, ist eine dokumentierte Entsorgung vorgesehen – möglichst nach vorheriger Digitalisierung zentraler Inhalte für die digitale Plattform. Erste Modellversuche sollen noch im laufenden Jahr starten.

Staatliches Förderprogramm Fotoerbe

Um das fotografische Erbe in Deutschland langfristig und strukturell zu sichern, setzt sich der Deutsche Fotorat für die Einrichtung eines staatlich getragenen „Förderprogramms Fotoerbe“ ein. Dieses Programm soll fotografische Bestände unterstützen, die als besonders erhaltenswert eingestuft werden – vergleichbar mit dem erfolgreichen „Förderprogramm Filmerbe“, das seit 2019 durch Mittel von Bund, Ländern und der Filmförderungsanstalt jährlich mit bis zu zehn Millionen Euro ausgestattet ist.

Ein vergleichbares Förderinstrument im Bereich der Fotografie würde es Archiven, Museen, Bibliotheken und Sammlungen ermöglichen, sich gezielt um finanzielle Mittel für die Übernahme, Erschließung, Digitalisierung und Sicherung fotografischer Vor- und Nachlässe zu bewerben. Die Vergabe soll durch eine unabhängige Jury auf Basis klar definierter Kriterien erfolgen.

Ein solches Programm wäre ein wichtiger kulturpolitischer Schritt, um die fotografische Überlieferung systematisch zu sichern – und um sicherzustellen, dass relevante Bestände nicht nur zufällig überleben, sondern gezielt bewahrt und öffentlich zugänglich gemacht werden. Angesichts des akuten Handlungsdrucks braucht es jetzt ein klares kulturpolitisches Signal sowie eine Finanzierungslösung mit Unterstützung von Bund und Ländern.

Jeder Tag zählt

Es gibt sie, die guten Beispiele: Archive, die mit viel Engagement digitalisiert und zugänglich gemacht werden. Erben, die Hilfe suchen – und finden. Fotografen, die ihr gesamtes Archiv vorbildlich in mühevoller Kleinarbeit sortiert, strukturiert und beschriftet haben und ihren Vorlass geregelt haben. Doch der Zeitdruck ist real. Archive verfallen, verschwinden im Sperrmüll oder lagern unentdeckt in feuchten Kellern. Es braucht jetzt praktikable Lösungen – für Fotografen, für ihre Erben, für das kulturelle Gedächtnis.

Digital. Dezentral. Praxistauglich.

Eine mögliche Antwort auf diese Herausforderung liegt in einer dezentralen, digital gedachten Archivstrategie. Technisch ist heute vieles machbar: Cloud- und Strea­minglösungen könnten dauerhaft Zugriff ermöglichen, selbst wenn physische Archive zerstört werden – wie etwa im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Hier zeigt sich brutal, wie gefährdet Kulturgut ist, das nicht digital gesichert wurde.

Doch es ist nicht getan mit dem Schaffen einer digitalen Archivstrategie – es braucht eine ganzheitliche Prozess-Struktur: Aufklärung und Informationszugang für Erben und Fotografen gleichermaßen, Hilfestellungen für Fotografen beim Digitalisieren und Kuratieren sowie dringende fachgerechte Notfall-Lagermöglichkeiten für Archivbestände, finanzielle Mittel für bestehende Fotoarchive in Deutschland sowie gezielte Förderprogramme für Vorlässe. Denn: Jeder gut kuratierte Vorlass ist ein ungeklärter Nachlass weniger.

Doch auch die Frage, welche Kriterien darüber entschieden, ob eine Fotografie aufbewahrt werden sollte oder nicht, sollte in einer Bewertungsmatrix erarbeitet werden. Ist es die fotografische Qualität, die inhaltliche Relevanz, die technische Qualität, die ordnungsgemäße vollständige Beschriftung und/oder der Erhaltungszustand etc.?

Was bleibt?

Die Archive sind mehr als Ablagen – sie sind das kollektive Gedächtnis unserer Gesellschaft. Und ihr Verlust wäre ein blinder Fleck in der Erinnerungskultur. Fotografien sind nicht nur private Andenken, sondern oft unersetzliche Quellen für Forschung, Wissenschaft, Medien und Bildung:

In der zeitgeschichtlichen Forschung liefern private Bildarchive oft die fehlenden Puzzlestücke, um historische Zusammenhänge sichtbar zu machen – etwa im Kontext der NS-Aufarbeitung oder der Alltagsgeschichte der DDR.

Die Migrationsforschung nutzt Fotografien, um Lebenswege sichtbar zu machen, die in offiziellen Akten unsichtbar bleiben.

In der Stadt- und Regionalforschung helfen Fotografien, soziale, bauliche und kulturelle Entwicklungen über Jahrzehnte hinweg nachzuvollziehen.

Kunst- und Kulturwissenschaften untersuchen fotografische Praktiken als Ausdruck gesellschaftlicher Strömungen, individueller Identität und kollektiver Erinnerung.

Selbst in der Künstlichen Intelligenz und visuellen Datenanalyse werden gut strukturierte, zugängliche Fotobestände benötigt – zum Beispiel für Trainingsdaten oder kulturhistorische Bildanalysen.

Was also bleibt, wenn nichts bleibt?

Ein kultureller Verlust, der weit über die einzelne Fotografie hinausgeht. Es wäre das Verschwinden von Geschichten, Blickwinkeln und visuellen Zeugnissen, die nie wieder rekonstruiert werden können. Deshalb gilt: Der beste Moment zu handeln ist jetzt. Gemeinsam mit Bund, Ländern und Kommunen.

Julia Laatsch hat in Berlin und Dortmund Fotografie studiert, ist Vorstand des Deutschen Fotorats, Beirätin im Berufsverband FREELENS e.V., Berufenes Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Photographie e.V. und Mitglied des Sprecherrats im Deutschen Kulturrat.

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