Als sich im Juni 1990 sieben Ost-Berliner-Fotografen zusammenfanden, um eine Fotoagentur zu gründen, hatten sie wenig Kenntnis vom Fotogeschäft der freien Presse im Westen. Aber sie hatten eine Vision und ein großes Vorbild: die Fotoagentur Magnum, dessen Mitbegründer Henri Cartier-Bresson als berühmtester Fotograf des 20. Jahrhunderts bezeichnet wird und den fast jeder Fotograf im Osten kannte.
Die Gründung war nicht ohne Hindernisse, doch zunächst musste ein Name gefunden werden, der sich einprägt. Die Gründungsmitglieder benannten sich nach der S-Bahnstation, die den Osten Berlins mit dem Rest der Stadt verbindet. Ihre Intention 1990 war gemeinsam von Berlin aus in alle Richtungen aufzubrechen, um mit ihren Kameras das Weltgeschehen zu dokumentieren. Dabei war es ihnen wichtig, einen vertrauten Ort zu haben, an dem sie sich wieder zusammenfinden und austauschen können.
NITRO hat mit zwei Gründungsmitgliedern gesprochen. Ute und Werner Mahler, die bereits zu DDR-Zeiten bekannten und bedeutende Fotografen waren, erinnern sich an die Gründung vor 35 Jahren, für die es viel Mut brauchte, und sie erklären, wie die Fotoagentur OSTKREUZ zur Erfolgsgeschichte wurde.
? Ute und Werner Mahler, Sie haben 1990 mit weiteren fünf ostdeutschen Fotografen die Fotoagentur OSTKREUZ gegründet. Können Sie für die Leser, die nicht so fotoaffin sind, erklären, warum Sie vor 35 Jahren eine Fotoagentur gegründet haben und wofür der Name OSTKREUZ steht?
! Werner Mahler: Es hat sehr viel mit unserer DDR-Vergangenheit zu tun und mit unserer Arbeit als Fotografen. In Ost-Berlin gab es eine aktive Fotoszene, viele Fotografen waren im Verband der Bildenden Künstler, kurz VBK, organisiert, und im VBK gab es die Sektion Fotografie. In der DDR hatte man zwei Möglichkeiten als Fotograf freiberuflich zu arbeiten: Entweder war man Mitglied im Verband Bildender Künstler oder man war im Journalistenverband. Wer also freiberuflich arbeiten wollte, brauchte eine staatliche Zulassung und die bekam man nur, wenn man in einem dieser beiden Verbände war.
In unserem Freundeskreis gab es viele Fotografen, die meisten waren im VBK. Dort fand eine intensive Auseinandersetzung mit der Fotografie statt und wir nutzten die Treffen dazu, uns unsere Bilder zu zeigen und darüber zu diskutieren.
Nach der Wende war diese Möglichkeit schlagartig weg, denn der VBK wurde langsam abgewickelt und aufgelöst. Wir wollten jedoch weiterhin eine Möglichkeit haben, uns auszutauschen. In den ersten Gesprächen darüber, wie es weitergehen sollte und auch bei den ersten Gründungsideen für eine neue Plattform oder Agentur waren fast 40 Fotografen dabei. Die Vorstellungen waren sehr verschieden und ziemlich diffus.
Ute Mahler: Und keiner wusste, wie so etwas überhaupt gehen soll …
Werner Mahler: … und viele fragten sich: Wie geht es weiter. Es gab Fotografen, die keinen Mut hatten oder auch für sich keine Chance sahen, sich in der neuen Zeit zu behaupten und die sich fragten: Will ich überhaupt noch Fotograf sein? Von den 40 Fotografen, die am Anfang an der Gründung einer Agentur mit DDR-Fotografen interessiert waren, verabschiedeten sich immer mehr.
Im Frühjahr 1990 wurde OSTKREUZ von 5 Fotografen gegründet
? Wer hat die Agenturgründung vorangetrieben?
! Werner Mahler: Ich habe sehr an die Idee einer Gruppe geglaubt, habe mich intensiv mit den Möglichkeiten einer Agenturgründung beschäftigt und mit Kollegen gesprochen, die echtes Interesse zeigten. Irgendwann waren wir sieben.
Ute Mahler: Es war aber auch eine Entscheidung: Wer kann was? Jeder Fotograf sollte seine eigene Handschrift haben und ein eigenes Spezialgebiet – also Porträt, Reportage, Landschaft, denn OSTKREUZ sollte möglichst viele fotografische Bereiche abdecken. Es war nicht nur die Idee einer Interessenvertretung, es gab auch die ökonomische Komponente.
Werner Mahler: Uns war zwar klar, dass das Geldverdienen schwierig wird, die alten Auftraggeber gab es nicht mehr und nur wenige von uns waren in den Hamburger oder Münchner Redaktionen bekannt. Auch deshalb entschieden wir uns im Frühjahr 1990 OSTKREUZ zu gründen. Zur Währungsunion am 1. Juli 1990 wurden wir eine Genossenschaft von sieben Gründern und genau sieben „Genossen“ braucht es für eine Genossenschaft.
? Ein historisches Datum. Die Agentur wurde als GmbH gegründet?
! Werner Mahler: Damals als Genossenschaft. Wir wollten keine GmbH sein, und wir hatten auch die 50.000 D-Mark nicht, die man für eine GmbH-Gründung haben musste.
? Welche Gesellschaftsform hat OSTKREUZ heute?
! Ute Mahler: Wir waren anfangs eine Genossenschaft, dann eine GbR und sind jetzt eine GmbH.
? Sie wurden Geschäftsführer?
! Werner Mahler: Ja, ich war vom ersten Tag an über 30 Jahre Geschäftsführer, seit fünf Jahren bin ich es nicht mehr.
? Die Agentur OSTKREUZ ist in 35 Jahren gewachsen. Wie viele Fotografen sind aktuell Mitglied bei OSTKREUZ?
! Werner Mahler: Es sind jetzt 25.
? 25 Fotografen arbeiten für OSTKREUZ?
! Werner Mahler: Wir sehen uns als eine Art Bürogemeinschaft. Wir haben einen Büroleiter, eine Buchhalterin und eine Mitarbeiterin für das Archiv. Das Büro betreibt die Akquise für uns, aktualisiert die Website und unterstützt bei Aufträgen. Es ist ein Anlaufpunkt für uns Fotografen, für Kunden und Kooperationspartner.
? Die Fotografen, die unter OSTKREUZ firmieren und Freiberufler sind, arbeiten aber als OSTKREUZ-Fotografen, wenn sie Aufträge übernehmen?
! Werner Mahler: Alle Fotografen sind freiberuflich und den Fotografen gehört die Agentur OSTKREUZ. Deshalb auch der Name „Agentur der Fotografen“.
? Wie muss man sich das vorstellen? Wird Fotografen ein Fotojob angeboten, buchen die Auftraggeber einen OSTKREUZ-Fotografen?
! Werner Mahler: Die Auftraggeber haben genaue Vorstellungen, mit welchem OSTKREUZ-Fotografen sie arbeiten wollen. Selten kommen Jobanfragen, die für mehrere Kollegen möglich sind.
Archiv ist für alle offen, nicht nur für OSTKREUZ-Mitglieder
? Und die Fotografen geben dann eine bestimmte Summe oder einen bestimmten Prozentsatz an die Agentur ab, damit diese sich finanzieren kann?
! Werner Mahler: Wir haben drei Töpfe, in die wir alle einzahlen. In den ersten Topf geht ein Beitrag, der monatlich für jeden fällig wird – unabhängig, ob er Geld verdient oder nicht, denn die Agentur hat laufende Kosten. Wir können unsere Mitarbeiter nicht entlassen und sie zurückholen, wenn es besser läuft. Das ist allerdings nur ein kleiner, erschwinglicher Beitrag.
In den zweiten Topf zahlen alle einen festgelegten Anteil der Auftragshonorare ein. Dabei ist es egal, ob der Auftrag an einen Fotografen direkt oder über OSTKREUZ kam. Jeder Auftrag und die finanzielle Abwicklung laufen übers Agentur-Büro und nicht über den Fotografen.
Der dritte Topf ist das Archiv. Bei Archivverkäufen behält die Agentur einen festen Prozentsatz ein. Unser Archiv ist aber auch offen für Fotografen, die nicht OSTKREUZ-Mitglieder sind.
? Noch mal zum Verständnis: Wem genau gehört die Agentur?
! Ute Mahler: Die Agentur gehört allen Mitgliedern. Jedes Mitglied kann sagen, in welche Richtung sich die Agentur bewegen soll und in welche nicht. Jeder kann mitentscheiden und Einfluss nehmen.
? Wie viele Gründungsmitgliedern sind heute noch dabei?
! Ute Mahler: Drei Gründungsmitglieder sind noch bei OSTKREUZ, Harald Hauswald, Werner und ich. Drei haben sich anders orientiert. 2010 verstarb Autorenprinzips, wir sehen sie jedoch noch immer als Mitglied, bei thematischen Ausstellungen sind ihre Bilder dabei, wie beispielsweise bei der Ausstellung im C/O „Träum weiter – Berlin“
? OSTKREUZ verwaltet die Bilder von Sibylle Bergemann?
! Ute Mahler: Zum Teil.
Werner Mahler: Ihre Tochter Frieda von Wild und ihre Enkeltochter Lily von Wild sind die Nachlassverwalterinnen.
? Was ist heute der Leitgedanke von OSTKREUZ?
! Ute Mahler: Der Leitgedanke von OSTKREUZ ist immer gleichgeblieben. Die Agentur-Mitglieder fotografieren unter Wahrung des Autorenprinzips sozial engagierte, politische und künstlerische Projekte und dokumentieren das Zeitgeschehen.
Bettina Schellong-Lammel
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