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35 JAHRE MAUERFALL
Auslandsjournalismus

Mit anderthalb Beinen im Knast 

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Die Europäische Union plant eine Richtlinie zum besseren Schutz von Geschäftsgeheimnissen. Für Whistleblower und Journalisten wird das gefährlich. Leicht haben sie es schon jetzt nicht, wie die jüngsten Ereignisse um Verfassungsschutz, Bundesanwaltschaft und Netzpolitik.org zeigen.

Edward Snowden, der die Welt im Juni 2013 über die umfassende Spähaktivität der National Security Agency (NSA) informierte, dürfte der bekannteste Whistleblower weltweit sein. So nennt man Leute, die brisante Interna publik machen – das manchmal verwendete deutsche Wort Hinweisgeber wirkt sehr farblos angesichts der Größe dessen, worum es geht.

Ist Snowden ein Held oder ein Verräter? Das ist die Gretchenfrage der Gegenwart, die Antwort offenbart, für welche Haltung jemand steht. Ja, zweifellos hat er Geheimnisse verraten, Regierungsgeheimnisse sogar. Für viele ist Snowden deswegen ein Verräter: Staatsgeheimnisse weitergeben, das geht gar nicht. „Herr Geheimrat Doktor von Staat“ wird schon wissen, was er tut. Basta. Abweichendes Verhalten ist Neuland. Und wer wäre schon gern im Neuland?

Für andere dagegen ist Snowden ein Held. Die von ihm öffentlich gemachten Geheimnisse offenbaren illegales Handeln einer Behörde, eines Geheimdienstes. Verstoßen hat die NSA gegen Gesetze ihres eigenen Landes, der Vereinigten Staaten von Amerika, aber eben auch gegen Gesetze Europas und Deutschlands. Der Vorwurf lautet auf Spionage, ein Offizialdelikt, bei dem der Generalbundesanwalt Ermittlungen aufnehmen muss, ebenso wie bei Landesverrat.

Snowden hält sich derzeit in Russland auf, unerreichbar für die Justiz der USA. Von der hat er keine Gnade zu erwarten: Eine Petition, die seine Begnadigung forderte, fand 168 000 Unterstützer, wurde aber von Lisa Monaco, Beraterin von US-Präsident Barack Obama, zurückgewiesen. Dabei handelt es sich um ein offizielles Statement des Weißen Hauses.

Keine Gnade für Snowden, die USA werden ihn nicht schonen. Wie hart sie in vergleichbaren Fällen vorgehen, haben sie im Falle Mannings gezeigt: Der Obergefreite (Private First Class) Bradley Manning, die nach ihrer Geschlechtsumwandlung jetzt Chelsea heißt, steckt für 35 Jahre im Knast.

Seine Untat: Als Manning im Irak stationiert war, lud er Dokumente auf Wikileaks hoch, darunter das Video der Bordkamera eines US-Kampfhubschraubers, die genau in Richtung des Maschinengewehrs filmt. Die Tonspur des Films ist der Funkverkehr der Piloten mit der Einsatzzentrale. Der Schwarz-Weiß-Film zeigt den tödlichen Beschuss unbewaffneter Zivilisten, darunter auch Kinder. Ergänzt eben um den Funkverkehr, Zitat: „Selbst schuld, wenn sie ihre Kinder mit in den Krieg bringen.“ Die Piloten erkannten also, auf wen sie schossen. Unter den Getöteten war auch ein Kameramann der Nachrichtenagentur Reuters. Entsprechende Nachfragen der Agentur wurden vom US-Militär nicht beantwortet.

Wikileaks hat die Geschichte unter dem Namen „Collateral Murder“ veröffentlicht, man findet die Aufnahmen leicht auf Youtube. Sie dokumentieren ein Kriegsverbrechen. Manning und Wikileaks haben sie veröffentlicht und werden dafür unbarmherzig verfolgt und bestraft. Wikileaks-Chef Julian Assange fürchtet die Verhaftung in Europa und anschließende Auslieferung an die USA, derzeit ist er im Asyl in der Botschaft der Republik Ecuador in London.

Pressefreiheit contra Staatsgeheimnisse
Aber kein Grund, mit dem Finger auf die USA zu zeigen. Deutschland ist nicht besser, das zeigt gerade die Landesverrats-Affäre.

Im Februar und im April veröffentlichte das Blog Netzpolitik.org zwei Beiträge über Pläne des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) zur Überwachung sozialer Netze wie etwa Facebook. Beide Berichte fußten offenbar auf Geheimdokumenten, die geleakt worden sind, oder wie man früher sagte: durchgestochen.

Netzpolitik.org ist seit über zehn Jahren für engagierte Berichterstattung zu den Themen Geheimdienste, Überwachung, Datenschutz und Digitales bekannt, wurde dafür mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung erzeugte keiner der beiden Artikel ein bemerkenswertes Echo in der Öffentlichkeit.

Am 30. Juli veröffentlichte Netzpolitik.org die Nachricht, dass der Generalbundesanwalt Range „aufgrund von Strafanzeigen des Bundesamtes für Verfassungsschutz“ gegen Chefredakteur Markus Beckedahl, Redakteur André Meister und Unbekannt ermittle, und zwar „wegen des Verdachts des Landesverrats“.

Hinter der Klage steht Hans-Georg Maaßen, der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz. Nebenbei, er hatte Snowden öffentlich als Verräter bezeichnet. Frühzeitig informiert über die Klage war das Bundesinnenministerium unter dem Dienstherrn Thomas de Maizière (CDU).

Das Ergebnis dieser Veröffentlichung ist eine politische Explosion, deren Druckwelle bis heute wirkt. Sie fegte als erstes den Generalbundesanwalt Range (FDP) von seinem Posten. Sein Dienstvorgesetzter, Bundesjustizminister Maas (SPD), und die Bundeskanzlerin Merkel (CDU) hatten sich von seinem Vorgehen distanziert. Maas stellte später eine nachhaltige Störung des Vertrauens fest und jagte ihn vom Hofe, das heißt in den Ruhestand.

Als sich Range angesichts der NSA-Überwachung und des Abhörens des Mobilphones von Kanzlerin Merkel geweigert hatte, Ermittlungen aufzunehmen – er müsse ja erst „gerichtsfeste Beweise“ haben –, da war das Vertrauen scheinbar noch ungetrübt. Gegen Netzpolitik.org wurde ermittelt, parallel sollte ein Gutachten klären, ob überhaupt Landesverrat vorliegt. Ein Schelm, wer Arges dabei denkt, oder vielleicht ein vernünftiger Denker. Jedenfalls gab Range das Bild jenes versierten Juristen, der jedes Thema in jede gewünschte Richtung drehen kann. Sympathisch muss man das nicht finden.

Aber warum überhaupt „Landesverrat“? Der Vorwurf ist gegen Journalisten sehr stark, viele Presseorgane bemühten den Vergleich zur Spiegel-Affäre von 1962. Das ist überzogen, damals wurde die Redaktion gestürmt, durchsucht und das Pressehaus am Hamburger Speersort überwacht, Journalisten inhaftiert. Dergleichen ist Netzpolitik.org bislang noch nicht widerfahren.

Vielleicht mit einer Ausnahme. Die juristische Grundlage für Ermittlungen gegen das Blog wegen der Artikel vom Februar und April wäre das Berliner Landespressegesetz (ein Bundespressegesetz gibt es nicht). Werden die Ermittlungen aber unter dem Vorwurf des Landesverrats geführt, ist nicht nur die angedrohte Strafe höher (mindestens ein Jahr Gefängnis), sondern es gelten auch längere Verjährungsfristen. Und, was hier wichtig ist: Die Ermittler dürfen dann zu ganz anderen Werkzeugen greifen. Die Strafprozessordnung (§ 100a, Abs. 2, Satz 1a) erlaubt dann ausdrücklich die Telekommunikationsüberwachung, also das elektronische Ausforschen von Telefonaten, E-Mails und anderer elektronischer Kommunikation.

Für ein Weblog von Onlinejournalisten, was Netzpolitik.org ist, bedeutet das eine sehr reale Gefahr. Jeder, der mit den Betroffenen Kontakt hat (so auch der Autor dieser Zeilen) muss damit rechnen, von den Ermittlern registriert zu werden. Bekanntermaßen hat Netzpolitik.org Informanten, die sich auf elektronischem Weg an das Blog wenden. Die dürften nun zu Recht scheu werden.

Deswegen ist es auch ein wichtiger Unterschied, ob die Ermittlungen bloß ruhen, oder ob sie eingestellt werden.

Selbstverständlich darf der Staat seine Geheimnisse schützen, auch Etatplanungen des Verfassungsschutzes für neue Betätigungsfelder. Dass er also nach denjenigen sucht, die vertrauliche Dokumente weitergegeben haben, ist legitim. Eines aber ist nicht legitim: dass der Staat bei den Journalisten und in den Redaktionen sucht, woher sie die Geheimdokumente haben.

Dazu gibt es ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes. Vor zehn Jahren, 2005, hatte der Journalist Bruno Schirra über einen al-Qaida-Terroristen geschrieben. Sein in der Zeitschrift Cicero erschienener Bericht nannte ausführlich Interna, die aus einem Bericht des Bundeskriminalamtes (BKA) stammten. Die zuständige Staatsanwaltschaft in Potsdam begann darauf mit Ermittlungen, ließ die Cicero-Redaktion und die Wohnung von Bruno Schirra durchsuchen. Von Letzterem wurde das komplette Archiv beschlagnahmt, also auch Unterlagen, die mit dem konkreten Fall gar nichts zu tun hatten. (NITRO, seinerzeit noch unter dem Namen Berliner Journalisten, berichtete darüber).

Wolfgang Weimer, der damalige Chefredakteur von Cicero, legte nach erfolglosen Einsprüchen vor Gerichten schließlich Verfassungsbeschwerde ein. In einem Urteil, das als richtungweisend gilt, gab das Bundesverfassungsgericht der Beschwerde statt und verurteilte Durchsuchung und Beschlagnahmung als schwere Eingriffe in die durch das Grundgesetz garantierte Pressefreiheit.

Der Staat (hier also das Bundeskriminalamt) dürfe zwar nach den Hinweisgebern suchen, das aber in den eigenen Reihen und keinesfalls in einer externen Redaktion, die solches Material verwendet.

Viele Beobachter des aktuellen Vorgehens gegen Netzpolitik.org fühlten sich an die Cicero-Durchsuchung vor zehn Jahren erinnert, denn auch diesmal lässt das Bundesamt für Verfassungsschutz gegen Journalisten ermitteln.

Warum das geschieht, ist klar: Man möchte Whistleblower einschüchtern, vor allem potenzielle. Menschen, die brisante Informationen von öffentlichem Interesse haben, aber noch zweifeln, ob sie diese weitergeben sollen. Davor fürchten sich speziell die Geheimdienste. Sie werden wissen, warum.

Öffentliche Empörung contra Ermittlungen
Das öffentliche Echo auf die Nachricht von den Ermittlungen kam schnell, entschieden und empört.

Schon zwei Tage nach Bekanntwerden demonstrierten in Berlin 2 500 Menschen gegen das Vorgehen des Staates. Einer der Redner, Daniel Drepper vom Journalistenbüro Correc!v, führte aus:

„Wir brauchen eine Kultur des zivilen Widerstandes. Wir brauchen eine Kultur des Leakens. Wir brauchen mehr Whistleblower. Wir brauchen mehr investigative Journalisten. Wir brauchen mehr Organisationen wie Netzpolitik.“

Zahlreiche Politiker, nicht nur der Oppositionsparteien, kritisierten die Ermittlungen und forderten Konsequenzen.

Immerhin ein Beamter, Range, musste seinen Posten räumen. Der Chef des Bundesverfassungsschutzes Hans-Georg Maaßen, sein Dienstvorgesetzter, Innenminister Thomas de Maizière und Justizminister Maas stehen unter Druck. Wie immer in solchen Fällen beginnt das schäbige Spiel der Schuldzuweisungen und Abwiegeleien.

Der bekannte Journalist Jacob Appelbaum, der in Berlin faktisch im Exil lebt, veröffentlichte eine fünfsprachige Petition mit der Forderung zur Einstellung der Ermittlungen:

„Die Ermittlungen gegen die Redaktion Netzpolitik.org und ihre unbekannten Quellen wegen Landesverrats sind ein Angriff auf die Pressefreiheit. Klagen wegen Landesverrats gegen Journalisten, die lediglich ihrer für die Demokratie unverzichtbaren Arbeit nachgehen, stellen eine Verletzung von Artikel 5 Grundgesetz dar. Wir fordern die sofortige Einstellung der Ermittlungen gegen die Redakteure von Netzpolitik.org und ihrer Quellen.“ Der Aufruf kann unter netzpolitik.us unterzeichnet werden.
Was noch geschieht, muss man abwarten.

Pressefreiheit contra Geschäftsgeheimnisse?
Künftig aber könnte alles noch viel schlimmer werden, denn in Brüssel braut sich gerade etwas zusammen.Die Europäische Union (EU) berät derzeit über eine EU-Richtlinie „über den Schutz vertraulichen Know-hows und vertraulicher Geschäftsinformation (Geschäftsgeheimnisse) vor rechtswidrigem Erwerb sowie rechtswidriger Nutzung und Offenlegung.“

Es geht also um den besseren Schutz von Geschäftsgeheimnissen. Unfaire Praktiken im Wettbewerb zwischen Unternehmen sollen unterbunden werden wie die Ausspähung von Konkurrenten. Ausgespähtes Material soll nicht mit wirtschaftlichem Nutzen verwertet werden dürfen. Das klingt zunächst einmal unspektakulär.

Aber die Richtlinie betrifft nicht nur Unternehmen, die im Wettbewerb stehen. Sie betrifft auch Whistleblower und Journalisten, die deren Erkenntnisse verwenden. Auch die nutzen ja Geschäftsgeheimnisse, und das oft zum Schaden des betroffenen Unternehmens – im Fall der Gammelfleischskandale in Deutschland war die Berichterstattung darüber den Unternehmen sicherlich nicht angenehm …

Kritische und investigative Berichterstattung ist auf Whistleblower aus Unternehmen angewiesen. Das hat mit Industrie- und Wirtschaftsspionage nichts zu tun, sondern Arbeitnehmer wägen dabei ihre Treuepflicht gegenüber dem Unternehmen mit dem öffentlichen Interesse ab und entscheiden, dass das Letztere schwerer wiegt.

Formuliert wurde der Entwurf der neuen Richtlinie von der Generaldirektion Markt der Europäischen Kommission. Das geschah in enger Abstimmung mit Unternehmensvertretern und Anwaltskanzleien. Journalistenverbände und andere Akteure der Zivilgesellschaft wurden nicht eingebunden.

So werden einseitig nur Interessen der Unternehmen berücksichtigt, das berechtigte Informationsinteresse der Öffentlichkeit steht hinten an.

Eine Verankerung des Schutzes von Geschäftsgeheimnissen in Europa ist Teil der handelspolitischen Aktivität der EU-Kommission für den Abschluss des Transatlantischen Freihandelsabkommens (TTIP). Die Richtlinie hat den Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments mit nur geringen Änderungen passiert – zu geringen Änderungen, geht es nach Organisationen der Zivilgesellschaft.

In Deutschland haben sich nun sieben Nichtregierungsorganisationen zusammengefunden, um vor der ersten Lesung im Parlament für weitere Änderungen zu werben; es besteht durchaus die Gefahr beziehungsweise der Verdacht, dass den Parlamentariern gar nicht klar ist, welche Tragweite die Richtlinie haben wird. In einer gemeinsamen Presseerklärung haben sie ihre Forderungen präsentiert. Die mögen auf den ersten Blick nach juristischen Feinheiten klingen. Tatsächlich aber geht es darum, wessen Interesse in Europa künftig schwerer wiegt: das der Konzerne, oder das einer informierten Öffentlichkeit.

(Albrecht Ude gehört zu den Erstunterzeichnern des Aufrufs von Jacob Appelbaum und nahm an den Beratungen der zivilgesellschaftlichen Organisationen zur Änderung der EU-Richtlinie teil.)

Hyperlinks

Gemeinsame Pressemitteilung von DGB, dju, FFII, LobbyControl, Netzwerk Recherche, Whistleblower-Netzwerk und CORRECT!V: EU-Richtlinie gefährdet Meinungs- und Pressefreiheit (8. Juni 2015)
http://www.dgb.de/presse/++co++fd3f05a6-0db9-11e5-ad66-52540023ef1a

Aufruf von Jacob Appelbaum zum Schutz der Pressefreiheit
https://netzpolitik.us/

Konsolidierte Richtlinie zu „Trade Secrets“ nach Beratung im Rechtsausschuss
http://www.arbrb.de/media/Bericht_RA.pdf

Eine Infoseite vom „Arbeitsrechtsberater“:
http://www.arbrb.de/gesetzgebung/41130.htm

Seite der EU dazu
http://ec.europa.eu/growth/industry/intellectual-property/trade-secrets/index_en.htm#maincontentSec1

Whistleblower und investigative Journalisten bald im Abseits?
Brigitte Zarzer 21.April 2015
http://www.heise.de/tp/artikel/44/44697/1.html

EU draft trade secrets directive threat to free speech, health,
environment and worker mobility
JOINT STATEMENT – updated from 17 December, 2014
http://www.corporateeurope.org/power-lobbies/2015/03/eu-draft-trade-secrets-directive-threat-free-speech-health-environment-and

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