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Wir brauchen nicht 
mehr Überwachung
Interviews

Wir brauchen nicht 
mehr Überwachung 

Bereits 1971 trat er in die FDP ein und mischt seit 25 Jahren als Fraktionsvorsitzender der FDP den Landtag in Schleswig-Holstein auf – Wolfgang Kubicki. Nicht immer wurde er von seiner Partei gefördert, bei Bundesvorstandswahlen ist der streitlustige Jurist mehrfach durchgefallen. Das änderte sich 2013 schlagartig. Grund: Die Top-Acts Brüderle und Rößler hatten die FDP an die Wand gefahren, die Liberalen flogen aus dem Bundestag. Eine neue Chance für den Mann von der Küste. NITRO hat Wolfgang Kubicki zehn Stichpunkte genannt und wollte wissen, was von der FDP zu erwarten ist.

? Sie sind 65 Jahre alt und neben Christian Lindner einer der bekanntesten Politiker der FDP. Was ist Ihr Antrieb, in diesem Jahr von der Landes- in die Bundespolitik zu wechseln?

!  Ich bin seit 25 Jahren Fraktionsvorsitzender der FDP im Landtag von Schleswig-Holstein und der dienstälteste Fraktionsvorsitzende aller Zeiten und aller Parlamente in Deutschland. Ich habe mich 2013, nachdem die FDP aus dem Deutschen Bundestag rausgewählt wurde, entschieden, Seite an Seite mit Christian Lindner die FDP wieder in den nächsten Bundestag zu führen. Dazu muss man kandidieren. Dieses Mal will ich nach Berlin wechseln und damit meine persönliche politische Karriere abschließen.

? Warum mischt ein Politik-Profi wie Sie nicht schon längst in der Bundespolitik mit? Sie spielen in der FDP doch schon lange ganz vorn mit.

!  Das war nicht immer so. Ich bin bei Bundesvorstandswahlen mehrfach nicht gewählt worden. Das hat sich erst geändert, als die Katastrophe eintrat und die FDP nach 60 Jahren aus dem Bundestag flog. Erst danach bin ich mit Werten um die 90 Prozent zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden gewählt worden.

Stichwort Fünf-Prozent-Hürde

? Nachdem die FDP unter dem Spitzenkandidaten Brüderle 2013 aus dem Bundestag ausgeschieden war, titelte die Süddeutsche Zeitung im April 2017: „Kubicki soll die Auferstehung der FDP mitorganisieren“. War die FDP nach der Ära Brüderle tot?

!  Es war nicht nur die Ära Brüderle, sondern auch eine Ära Philipp Rösler, er war damals der Bundesvorsitzende. Beide gemeinsam haben zu verantworten, dass die FDP 2013 den Bundestag verlassen musste. Am Tag nach der Wahl begann das Projekt Wiederaufstieg der FDP

? Die Wiedergeburt, weil die FDP tot war?

!  Christian Lindner und ich haben uns am Wahlabend in die Hand versprochen, dass wir alles tun werden, um die FDP in den nächsten Deutschen Bundestag zurückzuführen. Das Projekt ist 2015 mit der Hamburg-Wahl erfolgreich gestartet. Und in diesem Jahr haben wir bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen vorgelegt. In beiden Ländern haben wir deutlich über zehn Prozent erreicht. Das ist eine sehr gute Ausgangslage für die Bundestagswahl. Ich bin zuversichtlich, dass es die FDP wieder ins Parlament schaffen kann. Wenn ich jetzt bundesweit unterwegs bin, werde ich von Journalisten nicht mehr nach der Fünf-Prozent-Hürde gefragt.

Stichwort Kanzlerkandidat Martin Schulz und eine mögliche rot-rot-grüne Koalition

? Wie würde sich Deutschland verändern, wenn eine rot-rot-grüne Bundesregierung eine Mehrheit bekäme? Martin Schulz wird Kanzler, Sahra Wagenknecht Wirtschaftsministerin und die Grünen stellen den Innenminister?

!  Die Konstellation wäre gruselig, aber mit dieser Frage muss ich mich nicht beschäftigen, weil der Kanzlerkandidat Rot-Rot-Grün ausgeschlossen hat. Eine solche Konstellation würde die SPD bei der darauffolgenden Bundestagswahl im Jahr 2021 definitiv unter 20 Prozent bringen. Das Experiment Rot-Rot, das im Saarland einen Vorläufer hatte, ist mit Oskar Lafontaine an der Spitze kläglich gescheitert. Ich glaube, schon die Aussicht auf Rot-Rot-Grün würde dazu führen, dass die unentschlossenen Wähler zuhauf an die Wahlurnen strömen und bürgerlich wählen. Mit einem grünen Minister könnte ich leben, wenn er Boris Palmer oder Robert Habeck hieße. Aber mit einer Wirtschaftsministerin Sahra Wagenknecht, glaube ich, wäre die Flucht aus Deutschland ziemlich schnell organisiert.

Stichwort Wechselwille der Wähler

? In Deutschland gibt es, was Kanzlerin Merkel betrifft, offensichtlich keinen Wechselwillen. Und doch sagen Sie: Die Große Koalition ist ein schlechtes Modell. Wo könnte die FDP als Juniorpartner der CDU in einer schwarz-gelben Regierung ab 2017 Akzente setzen?

!  Das mich am meisten begeistert, ist der Begriff Juniorpartner. Das hört sich an, als ob der größere Partner dem kleineren sagt, was zu tun ist, und der kleinere organisiert die Mehrheit. Ich konnte nicht nur in Schleswig-Holstein, sondern bundesweit meine These belegen, dass in einer Koalition die Partner gleich stark sind, weil sie nur gemeinsam eine Mehrheit haben – unabhängig davon, wer wie viele Stimmen einbringt. Was die Wechselstimmung angeht, gibt es die auch in Hinsicht auf die Kanzlerin. Es gibt nur bedauerlicherweise kaum Alternativen zu Angela Merkel. Martin Schulz ist es definitiv nicht. Der belegt durch seine eigene Vita, dass seine Behauptung falsch sein muss, in Deutschland gehe es ungerecht zu. Wer es mit diesem Lebenslauf zum Kanzlerkandidaten der SPD schafft, zeigt, dass man in Deutschland aufgrund eigener Leistung vieles erreichen kann.

Stichwort Gerechtigkeit

? Die SPD führt im Moment eine Gerechtigkeitsdebatte und wird nicht müde zu sagen, wie ungerecht es in Deutschland zugeht. Ist sie damit auf dem Holzweg?

!  Die SPD hat gemeinsam mit der CDU/CSU vier Jahre in einer Großen Koalition regiert. Dass diese Koalition Herausragendes bewirkt hat, stimmt nicht. Die Große Koalition hatte nämlich keine gemeinsamen Ziele. Da haben zwei Partner vier Jahre lang vor sich hin gewerkelt. Wenn die Sozialdemokraten heute behaupten, sie hätten in dieser Koalition vieles durchgesetzt, ist es schon merkwürdig, wenn sie sich jetzt darüber beschweren, dass es Deutschland „schlecht geht“ und die Menschen sich ungerecht behandelt fühlen. Sie sind in den letzten vier Jahren für die Politik mitverantwortlich gewesen.

Stichwort AfD

? Für wie gefährlich halten Sie die AfD? Ist sie verfassungsfeindlich oder überschätzt?

!  Die AfD ist vor allem eine rechtspopulistische Partei mit kruden Vorstellungen, von denen ich geglaubt habe, dass sie bereits in der Mottenkiste der Geschichte verschwunden seien. Sie ist nicht gefährlich, weil sie – selbst dann, wenn sie bei der Bundestagswahl zehn oder zwölf Prozent erreichen würde – nur abbildet, was in der Gesellschaft vorhanden ist. Wir wissen aus vielen Studien, dass in jeder Gesellschaft, auch in Deutschland, zwischen 17 und 20 Prozent Menschen unterwegs sind, die sich von einem vernünftigen demokratischen Diskurs bewusst abkoppeln. Dass die jetzt in der AfD eine politische Ausdrucksform gefunden haben, muss man mit Stirnrunzeln begleiten, aber nicht beklagen. Auch diese Leute haben ein Recht darauf, sich durch Wahlentscheidungen Gehör zu verschaffen. Aber für den demokratischen Prozess selbst ist die AfD nicht gefährlich.

? Wie werden sich Politik und Zivilgesellschaft verhalten, wenn die AfD die Fünf-Prozent-Hürde schafft?

!  Die AfD wird in den Deutschen Bundestag einziehen, wenn nicht noch etwas sehr Dramatisches vor der Wahl passiert …

zum Beispiel Frau Petry oder Herr Meuthen treten aus der AfD aus

!  …oder Herr Gauland erklärt, dass er zu einer anderen Partei wechselt. Ich halte das für sehr unwahrscheinlich. Die AfD wird in den Bundestag einziehen, und wir müssen mit dieser Zeiterscheinung umgehen. Bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein haben es die anderen Parteien geschafft, die AfD auf 5,9 Prozent zu drücken – obwohl die Prognose zweistellig war.

? Die Demokratie muss die AfD aushalten?

!  Ja. Wir haben Glück, dass die AfD bei fünf bis zehn Prozent herumwerkelt. Anders als in Frankreich, wo der rechte Block 30 Prozent organisieren kann, oder in Holland, wo es 20 Prozent rechte Wähler gibt. Mir zeigt das, wie stabil unser demokratisches Gemeinwesen ist. Wir müssen keine Angst vor Weimarer Verhältnissen haben.

? Inhaltlich hat die AfD außer „Merkel muss weg“ und Flüchtlingsschelte nicht viel beizutragen?

!  Die meisten Aussagen der AfD sind irrsinnig und von gestern. Herr Gauland differenziert zum Beispiel zwischen Passdeutschen und anderen Deutschen. Ich habe ihn gefragt: Was ist ein Passdeutscher? Er sagte, das sei ein Deutscher, der einen deutschen Pass hat, aber kein richtiger Deutscher ist. Ich fragte: Wer ist ein richtiger Deutscher? Er sagte: ein biologischer Deutscher. Dann erzählte ich ihm, dass mein Name Kubicki polnisch ausgesprochen „Kubitzki“ heißt. Meine Familie musste im Dritten Reich einen Ariernachweis erbringen, und nun frage ich mich: Bin ich ein Passdeutscher oder ein biologischer Deutscher? Darauf hatte Herr Gauland keine Antwort.

Stichwort Datenschutz

? Die FDP macht sich stark für den Datenschutz, und die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat erfolgreich gegen die Vorratsdatenspeicherung geklagt.

(…)

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