Das Internetportal realsatire.de will den Irrsinn der Welt versammeln. Manche meinen, das sei die Zukunft der Nachrichtenvermittlung, die Betreiber nennen es Humorjournalismus.
„Wir wollen lustig, listig und lästig sein“, sagt Jochen Markett, der das Crowdfunding-Projekt zusammen mit Andi Weiland im Mai 2016 gegründet hat. NITRO traf die Humorjournalisten in einem Berliner Café mit dem kuriosen Namen „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ und sprach mit ihnen über den Anspruch, mit Realsatire das deutsche Publikum zu erreichen, dem nachgesagt wird, es gehe zum Lachen in den Keller – und natürlich über den Irrsinn der Welt.
In einer Berliner Kneipe suchten wir nach einer zündenden Idee
NITRO: Wann entstand die Idee, Realsatire zu gründen?
Weiland: Jochen und ich wollten schon immer etwas zusammen machen und hatten beide die Idee, Journalismus mit Humor zu verbinden. Also haben wir uns vor etwa einem Jahr zusammengesetzt, um uns ein Konzept zu überlegen. Wir saßen in einer Berliner Kneipe und suchten nach einer zündenden Idee, die nicht schon inflationär umgesetzt wird. Am Nebentisch saßen Helge Schneider und Hans-Werner Olm. Da haben wir gewusst: gutes Omen, geht in die richtige Richtung … Es war gefühlte Realsatire, dass die beiden in unmittelbarer Nähe unserer Gedankenspiele saßen.
NITRO: Und es hat geklappt?
Weiland:Wir hatten ein Riesenglück, dass die Domain realsatire.denicht genutzt wurde. Wie gesagt, gutes Omen. Ziemlich schnell haben wir damit begonnen, Beispiele für Realsatire aus dem täglichen Leben zu sammeln und die Geschichten dahinter.
Plastikmöbel und sonstige geringwertige Möblierungselemente
NITRO: Habt ihr ein Beispiel parat?
Markett: Natürlich. Die Zuschauer des Hessischen Rundfunks wählten Fulda zur schönsten Stadt in Hessen. Und diese Schönheit will die Stadtverwaltung natürlich schützen – mit einer siebenseitigen Richtlinie zu Sondernutzungen an öffentlichen Straßen. Darin steht unter anderem der tolle deutsche Satz: „Festzeltgarnituren, einfachste Plastikmöbel und sonstige geringwertige Möblierungselemente dürfen nicht aufgestellt werden“. Der Gastwirt des Lokals Heimat musste nun seine Bierbänke draußen austauschen, weil sie nicht den städtischen Vorstellungen von Schönheit entsprachen. Eine wunderbar absurde Geschichte und deshalb bestens geeignet für Realsatire.
NITRO: Ja, auch „Schönheit“ kann absurd sein …
Weiland:… und humorvoll.
NITRO: Setzt ihr Humorjournalismus mit Realsatire gleich?
Markett: Es bedingt sich ein bisschen, weil wir journalistisch an die Arbeit gehen und in der Realität recherchieren.
Schlamperei in Verwaltungen oder Skandale in der Politik
NITRO: Wie muss man sich das vorstellen?
Markett: Es ist kein Job, bei dem man nur am Schreibtisch sitzen und sich gute Pointen überlegen kann. Man muss rausgehen und recherchieren und das Absurde finden, das wirklich überall passiert. Das machen wir mehrfach pro Woche und bauen gerade ein Team auf, um die Marke bekannter zu machen. Denn nur durch einen hohen Bekanntheitsgrad der Marke schicken uns Leser zunehmend absurde Geschichten, die bei ihnen vor der Haustür passieren und die reale Satire sind.
NITRO: Da könnte man fast beim Begriff Absurd-Journalismus landen …
Weiland: Auf jeden Fall! Ich glaube, mit dem Wort absurd bekommt man noch viel schneller eine bestimmte Wertung, eine Konnotation. Journalisten erzählen ja eigentlich immer in irgendeiner Art Geschichten. So wie Investigativjournalisten das Ziel haben, eine „heiße Geschichte“ zu recherchieren – also Schlamperei in Verwaltungen oder in Firmen oder Skandale in der Politik aufzudecken und vielleicht sogar einen Politiker zu stürzen –, suchen wir das Real-Absurde. Wir wollen mit Humor die Geschichten hinter den Geschichten erzählen, und im Idealfall klappt das auch. Beim Humorjournalismus geht es immer auch ums Timing und die Pointe. Besonders absurd ist oft der Verwaltungsirrsinn der Deutschen, der hat total viel Humor.
Für Günter Wallraff einen Tischtennispartner gesucht
NITRO: Es kann eine große Hürde sein, die deutschen Leser über den Humor zu erreichen.
Markett: Ich hatte ursprünglich einen anderen Plan.
NITRO: Einen humorlosen?
Markett:Ganz im Gegenteil. Ich wollte auf die Suche nach dem deutschen Humor gehen, wollte durchs Land reisen und den deutschen Humor suchen, weil ich dieses Vorurteil kenne, die Deutschen hätten keinen Humor. Aber ich habe schon in den ersten Wochen seit dem Start von Realsatiregemerkt, dass es anders ist. Vielleicht ist Deutschland sogar prädestiniert für Realsatire, gerade weil es so viele irre Vorschriften gibt und weil sich viele Bürger einfach viel zu ernst nehmen.
NITRO: Ihr habt die Crowdfunding-Idee gewählt, die ganz gut Anklang findet. Vor allem seit ihr für Günter Wallraff einen Tischtennispartner gesucht habt. Wem von euch ist es eingefallen, Günter Wallraff für ein Tischtennisturnier zu gewinnen?
Markett: Das war Teamwork. Ich kannte Günter Wallraff aus Köln, ich habe da vier Jahre gelebt und mit ihm ab und zu Tischtennis gespielt. Als ich vor sechs Jahren nach Berlin gezogen bin, hatten wir uns kurzzeitig ein bisschen aus den Augen verloren. Aber vor dem Start von Realsatirehaben wir überlegt, wer unsere Idee gut finden könnte. Und ich wusste, dass Günter Wallraff viel Humor hat, habe ihn angerufen und ihm davon erzählt.
Kai Diekmann der Herausforderer von Günter Wallraff
NITRO: Wie hat er reagiert?
Markett: Er sagte: „Realsatire klingt super, den Begriff verwende ich auch gerne. Komm vorbei und erzähl mir, was ihr vorhabt.“ Ich bin hingefahren und habe ihn gefragt, ob wir bei unserem Crowdfunding ein Match gegen ihn anbieten könnten. Wer die höchste Summe zahlt, kann gegen Wallraff spielen. Er hat sofort zugestimmt.
NITRO: Und dann gab’s den Sechser im Lotto.
Markett: 1111 Euro war der Einsatz, den ein Spieler für Realsatire spenden sollte, wenn er gegen Günter Wallraff antreten will.
NITRO: Und dann hat Kai Diekmann angerufen?
Markett: Zwei Wochen lang passierte nichts. Doch nach 14 Tagen lasen wir plötzlich den Namen Kai Diekmann auf der Liste.
NITRO: Was dachtet ihr? Jackpot geknackt?
Weiland: Nein. Wir konnten zuerst nicht glauben, dass Kai Diekmann wirklich der Bieter ist. Da das Spiel in Vorkasse bezahlt werden musste, warteten wir den Geldeingang ab. Fünf Tage später war der Spieleinsatz auf dem Konto, und erst dann habe ich in seinem Büro angerufen und bekam die Bestätigung, dass Kai Diekmann der Herausforderer von Günter Wallraff ist.
Social Media erleichtert es uns, unsere Leser zu verifizieren
NITRO: Was hat Günter Wallraff gesagt? Hielt er die Herausforderung durch den BILD-Herausgebers für Realsatire?
Markett: Der war ebenso erstaunt wie wir, aber er hat es absolut sportlich gesehen.
NITRO: Hat das Turnier, das Günter Wallraff gewonnen hat, eurem Projekt einen Schub gegeben?
Weiland: Auf jeden Fall. Das Schöne ist, dass wir mit dem Tischtennisspiel zeigen konnten, wie wir Realsatire professionell umsetzen können, denn der Livestream lief über 45 Minuten und fand sehr viel Interesse bei den Usern. Was uns besonders gefreut hat, war, dass Wallraff und Diekmann – obwohl Kontrahenten – sehr entspannt waren und es beide sportlich gesehen haben, im positiven Sinne.
NITRO: Nun liegt die Messlatte aber hoch …
Weiland: Ja, und wir wissen natürlich, dass wir das nicht so schnell wiederholen können. Aber wir haben eine sehr schöne Welle, auf der wir motiviert sind weiterzumachen.
NITRO: Kennt ihr eure Leser?
Markett: Social Media erleichtert es uns, unsere Leser zu verifizieren. Wir haben jetzt rund 2 000 Fans auf Facebook, und die sind überwiegend um die dreißig Jahre jung und gut gemischt – vielleicht ein bisschen Überhang bei den Männern.
Hauptaufgabe, Investoren mit Risikokapital zu finden
NITRO: Wo seht ihr euch in zwei, fünf, zehn Jahren?
Weiland: Der nächste Schritt ist, eine Gesellschaft zu gründen und eine Finanzierung zu finden, die den Anschluss sichert nach dem Crowdfunding-Geld. Wir wollen kontinuierlich wachsen, also in Deutschland ein Team aufbauen und regelmäßig absurde und realsatirische Veröffentlichungen gewährleisten.
NITRO: Apropos absurd: Wenn ihr euch mit Erdogan, Donald Trump oder Putin anlegen würdet, brächte euch das auf jeden Fall eine Menge Klicks …
Weiland: … und wahrscheinlich jede Menge Ärger.Obwohl man ja immer sagt, Satire darf alles, kann man nie sicher sein, was Gerichte für Satire halten und was nicht.
NITRO: Aber Erdogan wäre schon ein Glücksgriff?
Markett: Es wäre nicht verkehrt – nur leider nimmt der Mann alles absurd ernst. Und unsere Hauptbotschaft ist ja gerade, dass man alles nicht so ernst nehmen sollte.
NITRO: Könnt ihr von den Absurditäten, von Humorjournalismus und von Realsatireleben oder müsst ihr euch noch querfinanzieren?
Markett: Ich würde gerne so schnell wie möglich davon leben, aber ich kann es im Moment nur zu etwa einem Drittel. Unser Ziel ist, im nächsten Jahr den Prozentsatz deutlich zu steigern, deshalb ist jetzt unsere Hauptaufgabe, Investoren mit Risikokapital zu finden – oder potenzielle Kooperationspartner. Wir werden uns an Startup-Wettbewerben beteiligen oder vielleicht Verlage ansprechen, mit denen wir kooperieren können. Wir überlegen auch, Realsatire-Veranstaltungen zu organisieren, die das Medium auch querfinanzieren.
Das Interview führte Bettina Schellong-Lammel
Jochen Markettwählte zunächst den seriösen Berufsweg: Er ließ sich zum Journalisten ausbilden und arbeitet seit zehn Jahren als Medientrainer. Doch immer öfter zog es ihn zur Satire. 2015 dann die Goethe’sche Erkenntnis: „Das Leben ist kurz – man muss sich einen Spaß machen.“ Deshalb gründete er „Realsatire“.
Andi Weilandkann beruflich genau die Dinge tun, die ihm Freude machen: Er fotografiert, filmt und macht erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit, vor allem für die Sozialhelden in Berlin. Und dazu nun auch noch „Realsatire“ – was will man mehr?
Bettina Schellong-Lammel
Ähnliche Beiträge
Neueste Beiträge
Die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
In der medienpolitischen Debatte ging und geht es um vieles. Kleine Sender, wie der Saarländische Rundfunk und Radio Bremen, sollten von größeren übernommen werden. Die ARD sollte mehr regional, das ZDF mehr national und international berichten. ZDF und Deutschlandradio könnten fusionieren. Doppelberichterstattung müsse vermieden werden….
Cartier-Bresson – das Jahrhundertauge
Am 9. November 2004 erschien die erste Ausgabe des Medienmagazins Berliner Journalisten – der Vorläufer des heutigen Medienmagazins NITRO. Darin veröffentlichten wir ein Exklusivinterview mit Martine Franck, der Witwe des bedeutenden Fotografen und Magnum-Mitbegründers Henri Cartier-Bresson. Franck, selbst Fotografin, sprach in diesem Interview im September…