Europäisches Parlament
Zwei neue Gesetze der Europäischen Union werden die Machtverhältnisse im Internet nachhaltig verändern. Zugunsten von Bürgerrechten und Verbrauchern. Eines der Gesetze betrifft mutmaßlich weltweit gerade mal neun Firmen.
Und sie bewegt sich doch. Die Europäische Union, der oft Schwäche, Langsamkeit und Unentschlossenheit nachgesagt werden. Etwas unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit bringt sie ein neues Digitalrecht auf den Weg.
Als einen wichtigen Schritt kann man die schon seit Mai 2018 geltende Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO, engl. „General Data Protection Regulation“ GDPR) ansehen. Obwohl diese juristisch nur in den Staaten der EU gilt, zeigt sie faktisch weltweite Wirkung, weil eben alle Firmen die DSGVO beachten müssen, die in der EU Geschäfte machen wollen. Auch, wenn das nur via Internet passiert – aber welcher Online-Shop möchte das nicht? Das liegt auch an den drastischen Strafen, die die DSGVO vorsieht, bis zu vier Prozent des weltweiten Jahresumsatzes der abgestraften Firma können ausgesprochen werden. Ganz wichtig dabei: Diese Strafen stehen nicht nur im Gesetz, sie werden auch erhoben und durchgesetzt. Dazu braucht es Organisationen und Personal. Ein europäisches Gesetz als weltweit wichtiger Meilenstein.
Jetzt hat das Europäische Parlament nach den üblichen „Trilog-Verhandlungen“ mit der Kommission und dem Rat am 6. Juli zwei neue Gesetze beschlossen. Das Digitale-Märkte-Gesetz („Digital Markets Act“, DMA)[1] und das Digitale-Dienste-Gesetz („Digital Services Act“, DSA)[2]. Beide sollen die Macht der großen Digitalkonzerne, sogenannter „Gatekeeper“, kontrollieren und begrenzen.
Geschlossene Plattformen öffnen – das Digitale-Märkte-Gesetz
Das Digitalmarktgesetz definiert als Gatekeeper oder „zentrale Plattformdienste“ alle Firmen, die in der Europäischen Union dauerhaft einen Jahresumsatz von mindestens 7,5 Milliarden Euro erwirtschaften oder einen Börsenwert von mindestens 75 Milliarden Euro haben. Zudem müssen sie in den Ländern der EU mehr als 45 Millionen Privatnutzer und über zehntausend gewerbliche Nutzer haben.
Als solche Plattformen nennt das Gesetz Online-Vermittlungsdienste (z. B. Markt- plätze, Shops für Software-Anwendungen und Online-Vermittlungsdienste in anderen Bereichen wie Mobilität, Verkehr oder Energie), Suchmaschinen, soziale Netzwerke, Video-Sharing-Plattformen, „nummernunabhängige interpersonelle Kommunikationsdienste“ (mit diesem juristischen Silbenschleppzug sind Instant-Messenger wie WhatsApp und Telegram gemeint), Betriebssysteme, Cloud-Dienste sowie Werbedienste, einschließlich Werbenetzwerken, Werbebörsen und sonstiger Werbevermittlungsdienste. Also eine Vielzahl von Anwendungen, von denen wohl jeder betroffen ist, der das Internet nutzt oder ein Mobiltelefon verwendet.
Die (angesichts der oben genannten Finanz- und Nutzerzahlen) betroffenen Firmen kann man hingegen buchstäblich an zwei Händen abzählen: Es sind die amerikanischen Konzerne Google, Amazon, Facebook, Apple, Microsoft, die VR-chinesischen Alibaba und Bytedance sowie aus Europa Booking.com und SAP. Um die Dimension klarzustellen: Ein Gesetz gegen derzeit mutmaßlich neun (!) betroffene Firmen weltweit, deren Produkte direkt oder mittelbar jeden Bürger der Europäischen Union betreffen! Eine solche Konzentration zeigt deutlich, dass der Markt eben nicht alles regelt, sondern dass es Richtlinien seitens der Politik braucht.
Was machen diese Konzerne?
Eine kurze Übersicht, was diese Konzerne anbieten, sei es gegen Geld oder „kostenlos“, was heißt: gegen Daten der Nutzer – ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
Alphabet (Mountain View, Kalifornien) betreibt mit Google die weltweit meistgenutzte Suchmaschine, den meistgenutzten Browser Chrome, das meistgenutzte Videoportal YouTube, das weitverbreitete Betriebssystem Android und viele anderen Angebote.
Amazon (Seattle, USA) unterhält die gleichnamige Online-Handelsplattform, Prime, Cloud-, Werbungs- und Zahlungsdienste und weiteres mehr.
Apple (Cupertino, Kalifornien), die Firma hinter den iMacs, iPhones mit dem Betriebssystem iOS, dem Messenger iMessage, dem Webbrowser Safari, der iCloud und mehr steckt.
Meta (Menlo Park, Kalifornien) entwickelte Facebook, kaufte Instagram und Whatsapp und weitere Dienste dazu.
Microsoft (Redmond, USA) besitzt das Betriebssystem Windows, die Suchmaschine Bing und zahlreiche Anwendungsprogramme sowie Bürosoftware. Microsofts Programme sind in europäischen Firmen und Behörden weit verbreitet.
Alibaba (Hangzhou, VR China) bietet auch in Europa genutzte Handelsplattformen, einen Zahlungsdienst und eine Cloud.
Bytedance (Peking) mit der auch bei europäischen Jugendlichen beliebten Videoapp TikTok.
Booking.com (Amsterdam, Niederlande), ein Buchungsportal für Flüge, Mietwagen und Unterkünfte.
SAP (aus dem baden-württembergischen Walldorf, Deutschland) betreibt Cloud-Applikationen, eine Handelsplattform und Bürosoftware.
Wohl jeder Leser wird, direkt oder mittelbar, vermutlich mehrere oder gar viele dieser Produkte und Angebote nutzen. Ebenso wird wohl jeder Leser auch ahnen können, dass diese Konzerne nicht nur eine enorme Markt- und Finanzmacht haben, sondern auch einen großen Lobbyeinfluss auffahren können.
Aus europäischer Perspektive sind vor allem die US-amerikanischen Anbieter marktdominierend und zuweilen marktschädigend. Sie verhindern fairen Wettbewerb und schädigen damit andere Firmen und die Verbraucher.
Gegen etliche von ihnen gab es bereits Kartellverfahren, die mit hohen Strafzahlungen endeten. Google musste die bislang höchste Strafe wegen eines Wettbewerbsverstoßes in der EU zahlen. 2018 verhängte Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager gegen Google die Rekordkartellstrafe von 4,34 Milliarden Euro wegen des Missbrauchs der marktbeherrschenden Stellung beim Smartphone-System Android. Schon 2017 wurde der Konzern von derselben Kommissarin wegen der Bevorzugung von Google Shopping zu 2,42 Milliarden Euro verurteilt. Der hauseigene Preisvergleichsdienst wurde in den Suchergebnissen stets ganz oben angezeigt, über den Konkurrenten. Was Wunder, wenn Suchmaschine und Preisvergleich aus demselben Haus kommen? Der Konzern klagte dagegen, das Gericht der Europäischen Union (EuG) wies die Klage 2021 ab. 2008 war gegen Microsoft ein Zwangsgeld in Höhe von 899 Millionen Euro verhängt worden. Solche Verfahren dauern Jahre, und wenn sie abgeschlossen sind, sind die wirtschaftlichen Tatsachen gesetzt und die Konkurrenz ist vom Markt gefegt.
Eben das ändert sich durch das Digitalmarktgesetz. Es definiert explizite „Verpflichtungen von Gatekeepern“ (Artikel 5) und „Möglicherweise noch näher auszuführende Verpflichtungen von Gatekeepern“ (Artikel 6). Letztere Formulierung zeigt, dass auch der EU noch nicht im Detail klar ist, wie sich dieses Gesetz auswirken wird. Klar aber ist, das die Auswirkungen weitreichend sein werden. Sobald das Gesetz in Kraft tritt, muss dann nicht mehr die Wettbewerbskommissarin im Nachhinein schauen, ob ein Konzern seine marktbeherrschende Stellung missbraucht hat, sondern die Plattformen, die die oben genannten Bedingungen hinsichtlich Kapitalisierung und Nutzerkreis erfüllen, müssen im Vorwege ihre Geschäftsmodelle ändern. Das wird einschneidend werden, denn in den beiden Artikeln hat die EU eigentlich nur aufgeschrieben, was sie am bisherigen Verhalten der Plattformen kritikwürdig fand. Die Verbote haben es in sich, und die Liste soll jederzeit aktualisiert werden können.
Artikel 5 („Verpflichtungen von Gatekeepern“) verbietet es, Daten von Nutzern aus verschiedenen Diensten zusammenzuführen, ohne dass die Nutzer dem zustimmen. Nutzer dürfen zu dieser Zustimmung nicht gezwungen werden, die Nutzung der Dienste muss auch ohne diese möglich sein. Facebooks Pläne, Daten der Nutzer von Facebook, WhatsApp und Instagram zu vereinen, dürften dadurch unrealisierbar werden.
Stark ausgeweitet werden die Rechte gewerblicher Nutzer (also Anbietern alternativer Dienste und Produkte), mit den Endnutzern (also möglichen Kunden) in Kontakt zu treten. Diese dürfen nicht benachteiligt werden, wie im Falle von Google Shopping geschehen. Solche gewerblichen Nutzer dürfen auch nicht gehindert werden, mit den zuständigen Behörden Kontakt aufzunehmen – man sollte denken, das sei eine Selbstverständlichkeit. Dem scheint bisher nicht so zu sein.
Gewerbliche Nutzer müssen mit ihren Kunden verkehren können, ohne einen Identifizierungsdienst des Gatekeepers zu nutzen – also ohne, dass die Plattform dabei „mithört“. Auch die Rechte von unabhängigen Werbetreibenden und Verlagen werden gestärkt.
Die Regeln von Artikel 6 („Möglicherweise noch näher auszuführende Verpflichtungen von Gatekeepern“) gehen noch weiter, wobei die etwas tastende Formulierung „möglicherweise“ zeigt, dass wohl noch niemandem klar ist, wie weit.
Die genannten Gatekeeper Apple, Google und Microsoft besitzen die kommerziellen Betriebssysteme iOS, Android und Windows. Diese sollen geöffnet werden. Die Nutzer sollen selbst entscheiden können, welche Anwendungsprogramme sie verwenden und von wo sie sich diese beschaffen, solange dadurch die Funktionalität und die Sicherheit des jeweiligen Betriebssystems nicht betroffen wird. Unter dieser Einschränkung ist vorgesehen, dass Nutzer auch vom Hersteller vorinstallierte Software löschen dürfen.
Das ist vor allem für Apple ein Paukenschlag, denn der Konzern hat bisher ein geschlossenes System aus Hard- und Softwareangeboten geschaffen. Bislang waren Produkte anderer Hersteller auf Apples Geräten nicht vorgesehen. Künftig darf, wer ein iPhone nutzt, einen anderen Browser als Safari verwenden, ebenso ein Android-Nutzer einen anderen als Chrome.
Auch müssen die Anbieter andere Zahlungssysteme zulassen – das geht bei Apple direkt zulasten der eigenen Rendite. Man kann sich vorstellen, mit welchem Lobbyaufwand die betroffenen Konzerne gegen dieses Gesetz vorgingen. Letztlich erfolglos, dazu unten mehr.
„Interoperabilität“ ist ein weiteres Schlagwort, das die Lobbyisten in Rage gebracht haben wird. Das betrifft die Messenger-Dienste von Facebook (Facebook Messenger, WhatsApp) und Apple (iMessage), die Schnittstellen für den Kontakt mit kleineren Diensten (wie Threema oder Signal) öffnen müssen. Das Problem für die Nutzer ist ja: Wer die großen Plattformen – zum Beispiel aus Datenschutzgründen – nicht mag, verliert damit die Chance auf viele Kontakte. Man nennt das den „Netzwerk-Effekt“: Je mehr Nutzer ein Netzwerk hat, desto mehr Kontaktmöglichkeiten für jeden der Nutzer. Dieser Effekt benachteiligt selbstverständlich kleinere Anbieter, eben das wird jetzt geändert. Und zwar binnen drei Monaten, falls ein kleinerer Anbieter eine entsprechende Anfrage stellt.
Um es zusammenzufassen: Das Digitalmarktgesetz wird Löcher in die Mauern schlagen, mit denen die Gatekeeper ihre Sphären abgrenzen wollen. Nutznießer werden neben allen Anwendern vor allem kleinere (also auch europäische) Anbieter von digitalen Dienstleistungen sein. Und die betroffenen Konzerne müssen von sich aus tätig werden, um das zu ermöglichen.
Das werden sie vermutlich auch tun, denn die angedrohten Strafen bei Fehlverhalten sind hoch: bis zu 10 Prozent des weltweiten Umsatzes, im Wiederholungsfall bis zu 20 Prozent. Aber solche Strafzahlungen nach Verstößen müssen auch durchgesetzt werden. Wer das tun wird, ist noch offen. Laut Gesetz dürfen auch die nationalen Verbraucherschutzorganisationen Klage erheben, das wäre in Deutschland die „Verbraucherzentrale Bundesverband“ (vzbv). An sich zuständig ist aber die Kommission der EU, die dafür bei einer „Direction Generale“ den Auftrag erteilen und diese mit Personal ausstatten muss.
Sobald das Digitalmarktgesetz in Kraft tritt, ist es ein direkt in allen Mitgliedsstaaten geltendes, EU-weites Gesetz.
Den ganzen Beitrag lesen Sie in der neuen Ausgabe.
Fußnoten
[1] Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates
über bestreitbare und faire Märkte im digitalen Sektor (Gesetz über digitale Märkte)
https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=COM:2020:842:FIN
[2] Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates
über einen Binnenmarkt für digitale Dienste (Gesetz über digitale Dienste)
https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX:52020PC0825
[3] Neue Studie zur Lobbymacht von Big Tech: Wie Google & Co die EU beeinflussen
https://www.lobbycontrol.de/2021/08/neue-studie-zur-lobbymacht-von-big-tech/
[4] https://www.lobbycontrol.de/schwerpunkt/macht-der-digitalkonzerne/
Albrecht Ude
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