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KRIEG UND FRIEDEN
Die Hölle im Kopf bleibt
Foto: Bernd Lammel
Interviews

Die Hölle im Kopf bleibt 

Arye Shalicar war Pressesprecher der israelischen Armee und hat seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 bis zu 50 Interviews am Tag gegeben. Meist auf Deutsch. Der Grund: Shalicar kommt aus Berlin. Er hat eine ganz eigene Sicht auf Deutschland, Muslime und wie man Brücken zwischen den Kulturen aufbauen kann. Im Interview mit Ν erzählt er, wie er die Orte des Massakers vom 7. Oktober 2023 vorgefunden hat, wie es um die Geiseln steht, die die Hamas verschleppt hat, und welche Wünsche er für die Zukunft hat.

? Sie sind in Berlin-Wedding zwischen muslimischen Jugendlichen aufgewachsen und sagten in einem Gespräch mit dem Spiegel: „Ich habe als Jugendlicher alles gehasst, meine Eltern, den Wedding und Deutschland.“ Wie muss man sich Ihr Leben als jüdisch-persischer Jugendlicher in Berlin-Wedding vorstellen? Gab es viel Konfliktpotenzial?

! Aufgewachsen bin ich mit multikulti-kunterbunten ­Typen und ich war ein Junge, der von seiner jüdischen Identität keine Ahnung hatte. Im Alter von 14 oder 15 Jahren fand ich mich zwischen allen Stühlen wieder, denn ich passte nirgends rein. Für die Deutschen war ich ein Junge, der anders aussieht und „irgendwoher“ kommt, und für die Muslime war ich ein Jude – der sich nicht als Jude gefühlt hat. Mit Israel hatte ich nichts am Hut und mit dem Iran ebenfalls nicht, deshalb war ich alles und niemand. Das war schwierig, weil man als Jugendlicher natürlich auf der Suche nach Zugehörigkeit und Identität ist. Ich habe in diesen Jugendjahren deshalb sehr viel Hass erlebt, aber zum Glück auch Freundschaft von Muslimen, die zu mir gehalten haben. Meine Jugendzeit hat mich sehr geprägt, und ich habe mir meinen Weg gebahnt.

? Wie hat Sie Deutschland geprägt, und wie viele deutsche Eigenschaften stecken in Ihnen? Gibt es etwas, was Sie an sich selbst als „typisch deutsch“ charakterisieren würden?

! Deutschland und besonders Berlin haben mich enorm geprägt. Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen, und es gibt Dinge wie Ordnung, Pünktlichkeit und Anstand, die mir weiter wichtig sind. Ich sage meinem Sohn und meiner Tochter von klein auf immer wieder zwei Sprüche: „Übung macht den Meister“ und „Ohne Fleiß kein Preis“. Ich liebe immer noch die Berliner Currywurst, die ich schon damals sehr mochte. Insofern wird immer auch ein Stück Berlin in mir sein. Andererseits habe ich zu Deutschland und Berlin auch eine Art Hass-Liebe, weil ich in Berlin leider auch sehr gefährliche Situationen erleben musste, die mich fast mein Leben und meine Zukunft kosteten. Zum Glück habe ich den Sprung geschafft, raus aus dem Wedding, raus aus den Gangs, raus aus der Migrantenszene. Ich habe es geschafft, mich von alldem zu lösen und mein Leben auf ein festes Fundamt zu stellen.

Am 7. Oktober als Reservist in den Militärdienst einberufen

? Sie leben seit 22 Jahren in Israel und sind seit 2009 Sprecher der israelischen Armee: Wie haben Sie den 7. Oktober 2023 erlebt, als Terroristen der Hamas Israel überfielen, grausame Massaker an Zivilisten verübten und 240 Geiseln entführten?

! Am 7. Oktober war ich ein normaler Zivilist, kein Armeeangehöriger. Ich wurde am Schabbat von meiner Frau geweckt, weil überall in den Zentren des Landes Sirenen heulten. Über die Bildschirme liefen die ersten Informationen und Bilder, die von einem Angriff der Hamas berichteten. Von diesem Überfall war in den ersten Stunden des 7. Oktober nicht viel mehr bekannt, als dass es sich um einen Anschlag der Hamas auf Israel handelte. Mittags, nachdem ich im israelischen Fernsehen schon viel Videomaterial gesehen hatte, wurde mir klar: Da läuft etwas viel Größeres. Kurze Zeit später kam der Anruf von der israelischen Armee, und ich erfuhr, dass Krieg ist und ich ab sofort als Reservist in den Militärdienst einberufen bin. Seitdem war ich in der Armee. Aber am 1. Mai habe ich die Uniform abgelegt und bin jetzt wieder Zivilist.

? Welches Bild bot sich Ihnen, als Sie in die Kibbuze und auf das Veranstaltungsgelände des Musikfestivals kamen, wo die Hamas mordete, vergewaltigte und Menschen entführte?

! Es war der blanke Horror. Es bot sich ein Anblick, den man sich nicht vorstellen kann. Das waren Bilder, die mir nie mehr aus dem Kopf gehen werden. Ich bin am 8. Oktober an den Anschlagsorten angekommen, und da herrschte eine Kriegssituation. Sehr viele Terroristen waren noch in dem Gebiet unterwegs, überall Sicherheitskräfte, und die ganze Zeit heulten die Sirenen, weil es viele Raketeneinschläge der Hamas gab.

In den Kibbuzen lagen unzählige Leichen, der Geruch der toten Körper, der Geruch von Tod war sehr präsent. Es gab tote Babys, vergewaltigte Frauen, alte Menschen, die im Rollstuhl sitzend ermordet wurden, ganze Familien waren in ihren Häusern verbrannt worden. Es gab verbrannte Autos und über Kilometer verteilt ermordete Frauen, Männer, Kinder, junge und alte Menschen, wohin das Auge blickte. Die ganze Zeit Sirenenalarm und Einschläge. Die ersten Tage und Wochen gab es auch noch sehr viel Raketenbeschuss auf Israel. Ich konnte einfach nicht fassen, dass so viele Menschen so grausam gestorben waren.

Die Bilder bekommt man nicht aus dem Kopf

? Wie konnten Sie Ihren Job als Sprecher der israelischen Armee ausüben, nachdem Sie die Gräueltaten an Frauen, Männern und Kindern gesehen hatten? Wie bekommt man diese Bilder wieder aus dem Kopf?

! Die Bilder bekommt man gar nicht aus dem Kopf. Seit sieben Monaten lebe ich mit diesen Bildern, denn es bleibt mir gar nichts anderes übrig. Um nicht durchzudrehen, muss man diese schrecklichen Szenen in seinem Kopf „parken“. Es ist wichtig, sich dieser Dinge bewusst zu sein, aber sie dürfen unseren Kopf nicht übernehmen, denn wenn das passiert, reagiert oder agiert man eventuell aus Motiven, die problematisch sein könnten. Man muss man bei klarem Verstand bleiben.

Ich habe mir vom ersten Tag an gesagt, dass ich bei diesem Einsatz einerseits einen gewissen Abstand halten muss, damit ich die Situationen erklären kann, die hier passieren. Andererseits waren die Ereignisse ganz, ganz nah an meinem Herzen, denn meine Eltern wohnen im Süden Israels, und ich war am 6. Oktober bis abends bei ihnen. Wenige Stunden, bevor dieser massive Überfall stattfand, war ich mit meinen Kindern und meiner Frau nicht weit weg von dem Gebiet, in das die Terroristen vorgedrungen sind. Es hätte also auch mich und meine Familie treffen können. Deshalb sehe ich jede Geisel persönlich, als wären sie aus meiner Familie. Deshalb ist mein Einsatz nicht nur ein Einsatz für den Staat oder für die Flagge, sondern für die Menschen, die am 7. Oktober überfallen wurden und deren Leben die Hamas zerstört hat.

Lesen Sie das ganze Interview im aktuellen Heft.

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