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35 JAHRE MAUERFALL
Armenien – der verdrängte Völkermord
Die Armenierin Sirpuhi Papasian überlebte den Völkermords als Frau eines moslemischen Beduinen. Sie wurde 1915 in die Mesopotanische Wüste deportiert und konnte die Fotografie ihres Elternhauses und ihrer Onkel vor der Deportation retten. Heute lebt sie in Der Sor, Syrien.
Ausland

Armenien – der verdrängte Völkermord 

Der Völkermord an den christlichen Armeniern im Osmanischen Reich wird von der Türkei bis heute geleugnet. Dem ersten Genozid des 20. Jahrhunderts fielen zwischen 600 000 und 1,5 Millionen Menschen zum Opfer. In Deutschland behandelt Brandenburg als einziges Bundesland das Thema in seinem Lehrplan, wollte es 2002 aber herausnehmen – angeblich auf Intervention des Generalkonsuls der Türkei. Die Landesregierung nahm die Entscheidung jedoch nach Protesten des Vorstand des Zentralrats der Armenier in Deutschland zurück.
Nach Armenien kam ich 1983 durch einen Zufall. Auf einer Reise nach Tiflis in Georgien zwang mich die Interflug (Fluggesellschaft der DDR), mit der ich damals flog, zu einem viertägigen Zwischenstopp in Jerewan. Dort begegnete ich Vahan, einem alten Arbeiter und naiven Künstler. Er lud mich zu sich ein und wir tranken auf seinem Balkon Wein, genossen die Früchte seines Gartens und die Aussicht auf den schnee­bedeckten Ararat. Um den Brunnen in seinem Hof schlängelte sich eine gemeißelte steinerne Schlange.

Fotos und Text von Wolfgang Kunz

„Ein Symbol für die Türken“, sagte Vahan. „Wenn ich mir Wasser hole, trete ich dieser Schlange immer auf den Kopf.“

Durch Vahan erfuhr ich zum ersten Mal von dem fast vergessenen Völkermord der Armenier am Rande Europas. Bis dahin verband ich mit Armenien nur Sender-Eriwan-Witze, guten Cognac und Charles Aznavour.

Zurück in Hamburg begab ich mich gemeinsam mit einem Kollegen auf Spurensuche. Der wandte sich zunächst an die türkische Botschaft in Bonn mit der Bitte, uns bei den Recherchen über den Völkermord der Türken an den Armeniern zu unterstützen. Die Mitarbeiter versetzte diese Anfrage in höchste Alarmbereitschaft, doch die Türken waren clever und luden meinen Kollegen ins Verteidigungsministerium nach Ankara ein. Ich hatte inzwischen Kontakt zur armenischen Gemeinde in Deutschland aufgenommen und mir Adressen von möglichen Gesprächspartnern besorgt. Die wichtigste Informationsquelle für mich war aber das Buch des Franzosen Yves Ternon: „Tabu Armenien“.

Es war lange verboten, die Kirche Achtamar im Van-See, erbaut 915, "armenisch" zu nennen. Heute ist es wieder erlaubt, und im September 2010 wurde dort nach 100 Jahren zum ersten Mal wieder ein armenischer Gottesdienst abgehalten, zu dem über 2000 Armenier aus aller Welt anreisten.
Es war lange verboten, die Kirche Achtamar im Van-See, erbaut 915, „armenisch“ zu nennen. Heute ist es wieder erlaubt, und im September 2010 wurde dort nach 100 Jahren zum ersten Mal wieder ein armenischer Gottesdienst abgehalten, zu dem über 2000 Armenier aus aller Welt anreisten.

Ein Kollege riet mir, es nicht mit in die Türkei zu nehmen, denn schon dessen Besitz gelte als Hochverrat. Ich packte es trotzdem ein.

In Istanbul fotografierte ich die armenischen Goldschmiede im Bazar, ihre Familien, Schulen, Kirchen, Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen. Mein Kollege traf sich unter anderem mit Schnork Kalustian, dem damaligen armenischen Patriarchen von Istanbul.

Der Patriarch ließ sich jedoch nicht interviewen, sondern nur von mir fotografieren. Der Grund:  Er wollte keinem Journalisten mehr offenbaren, dass seine Familie selbst zu den Opfern des Völkermords gehörte. Sein Vater wurde umgebracht, seine Mutter verschleppt, er selbst überlebte in einem Waisenhaus. Jahre später fand er seine Mutter wieder, die als Putzfrau bei einer türkischen Familie arbeitete.

Er hatte seine Familiengeschichte Jahre vorher einem holländischen Journalisten erzählt, der sie auch prompt veröffentlichte Die armenischen Amtsinhaber und Würdenträger in Istanbul waren entsetzt, denn sie vertraten ebenfalls die offizielle Meinung in der Türkei – es gab keinen Völkermord, nur „unglückliche Ereignisse“ während des Ersten Weltkriegs. Das zeigt sehr deutlich, in welcher Knebelsituation sich die Armenier in der Türkei befanden und noch befinden.

Der Armenier Armenak wurde gerettet, weil er von Beduinen in der Mesopotanischen Wüste entführt worden ist. Heute lebt er als moslemischer Beduine mit seiner Tochter.
Der Armenier Armenak wurde gerettet, weil er von Beduinen in der Mesopotanischen Wüste entführt worden ist. Heute lebt er als moslemischer Beduine mit seiner Tochter.

Im Verteidigungsministerium zeigte man meinem Kollegen Fotografien aus dem 1.Weltkriegs, auf denen bewaffnete armenische Partisanen zu sehen sind. Diese Fotos  sollten beweisen, dass es auch zahlreiche Tote auf der türkischen Seite gegeben hätte.

Als die deutsche Botschaft von unseren Recherchen erfuhr, beschwor man uns erschrocken, nie das Wort „Ermeni“ (Armenier) auszusprechen. Man sah uns schon im Gefängnis – wie einen deutschen Reiseleiter, der die Kirche auf der Insel Achtamar im Vansee seiner Reisegruppe in Gegenwart eines türkischen Soldaten als armenisch beschrieben hatte. Er kam erst nach acht Monaten wieder frei.

Wir fuhren an die Orte des Völkermords nach Ost-Anatolien. In kurdischen Dörfern fand ich armenische Kirchen, die als Lagerhäuser dienten, eine Dorfstrasse, die mit armenischen Katchkars (Kreuzsteinen) gepflastert war, Ruinen verlassener Friedhöfe und Orte, an denen Massaker stattgefunden hatten.

In Diyarbakir traf ich sogar Armenier, die als kleine Gemeinde hinter einer großen Mauer lebte. Sie scharten sich verschüchtert um ihren Priester, den einzigen außerhalb Istanbuls, als wir sie besuchten.

Zurück in Istanbul fotografierte ich eine armenische Schule und einen Kindergarten. Als die armenische Direktorin hörte, dass ich auch den Patriarchen fotografieren dürfte, stellte sie mir eine armenische Englischlehrerin aus den USA zur Seite.

Die Amerikanerin hatte keine Scheu vor dem Thema Genozid. Ich fragte sie, ob sie wisse, dass der US-Kongress den 24. April zum „Tag des Völkermords an den Armeniern“ erklärt hatte.

Als der türkische Co-Direktor, den es in allen armenischen Einrichtungen gibt, davon erfuhr, verlangte er meinen Pass. Es folgte ein langes Hin und Her im Büro, dann viele Telefo­naten mit oberen Stellen. Der Direktorin war empört über diese Situation, doch wir kamen zu keinem Ergebnis.

Bis ich dem Co-Direktor vorschlug, ihm  meinen Film auszuhändigen. Danach erhielt ich meinen Pass zurück und konnte gehen. Zum Glück hatte niemand bemerkt, dass ich mehr als einen Film verschossen hatte.

In Hamburg präsentierte ich der GEO-Redaktion meine Bilder, doch als ich den Text meines Kollegen las, stellte sich heraus, dass  er der Meinung war, die Armenier seien selbst schuld an ihrer Situation, weil sie den damaligen Kriegsgegner Russland unterstützt hätten. Die Türken hätten sich wehren müssen. Vom Befehl des türkischen Innenministers Taalat Bey, die Armenier systematisch zu vernichten, war in seinem Manuskript nichts zu lesen.

Die Armenierin Sirpuhi Papasian überlebte den Völkermords als Frau eines moslemischen Beduinen. Sie wurde 1915 in die Mesopotanische Wüste deportiert und konnte die Fotografie ihres Elternhauses und ihrer Onkel vor der Deportation retten. Heute lebt sie in Der Sor, Syrien.
Die Armenierin Sirpuhi Papasian überlebte den Völkermords als Frau eines moslemischen Beduinen. Sie wurde 1915 in die Mesopotanische Wüste deportiert und konnte die Fotografie ihres Elternhauses und ihrer Onkel vor der Deportation retten. Heute lebt sie in Der Sor, Syrien.

Der deutsche Botschafter in der Türkei schätzte im Oktober 1916, dass von den rund 2,5 Millionen Armeniern im Osmanischen Reich schon zwei Millionen deportiert und davon 1,5 Millionen ermordet worden waren. Bis zum Kriegsende erhöhte sich die Zahl der Toten in diesem Völkermord noch beträchtlich.

 

GEO wollte  diesen Text nicht drucken und  schlug mir vor, einen eigenen zu schreiben, was ich auch tat. Meine Version wurde dann mit der Begründung abgelehnt, man könne keinen Redakteur mit auf die Reise schicken und dann den Fotografen die Geschichte schreiben lassen.

Die Reportage verschwand für lange Zeit in der Schublade, bis mein Kollege den Auftrag bekam, seinen Text umzuschreiben.

 

Er  versuchte es drei Mal, aber an seiner  zentralen Aussage, die Armenier seien an ihrem Schicksal selber schuld, hielt er fest.

Ich widersprach jedes Mal vehement und  bat GEO schließlich darum, die Geschichte nicht zu publizieren. Daraufhin drohte mir GEO, ich müsste die aufwändigen Reisekosten zurückzahlen, wenn ich die Geschichte scheitern  ließ.

Schließlich schlug mir der damalige Chefredakteur vor, die Bildlegenden selbst zu schreiben, und ich nahm an.

Als die Reportage schließlich veröffentlicht wurde, demonstrierten Armenier vor dem Redaktionsgebäude und ich erhielt von GEO lange keinen Auftrag mehr.

Ort des Völkermords 1915-18 am Fluss Kahbur: In der Höhle von Scheddadie in der Mesopotamischen Wüste, der "Armenischen Höhle" - heute Syrien, wurden damals etwa 40.000 Armenier in die Höhle getrieben und mit Öl begossen. Sie verbrannten und erstickten.
Ort des Völkermords 1915-18 am Fluss Kahbur: In der Höhle von Scheddadie in der Mesopotamischen Wüste, der „Armenischen Höhle“ – heute Syrien, wurden damals etwa 40.000 Armenier in die Höhle getrieben und mit Öl begossen. Sie verbrannten und erstickten.

Kurz nach Erscheinen des Beitrags  über den Völkermord besuchte der armenische Katholikos Karekin, der in Beirut residierte,  Deutschland und wir begegneten uns. Karekin lud mich in den Libanon ein, wo ich meine Spurensuche fortsetzte. Ich interviewte in Syrien und im Libanon zahlreiche Überlebende und fotografierte die Schauplätze des Völkermords.

Der türkische Innenminister Taalat Bey ordnete 1915 an, das Ziel der Deportationen sei „das Nichts“. Das „Nichts“ war für die, die dem Morden entkamen, die Mesopotamische Wüste im heutigen Syrien.

Ich fand die „Cousins“, wie sie sich selbst nennen, in den Dörfern im Tal des Euphrat: Armenische Kinder, die dem Massenmord entkommen waren, weil Beduinen sie vor den Türken versteckt hatten, und die als Muslims aufwuchsen.

Ich fand die „Armenische Höhle“ in der Wüste Syriens, in der damals 40 000 Deportierte mit Öl übergossen wurden und verbrannten oder erstickten.

Nirgends fand ich dort Gedenktafeln, die an dieses Verbrechen erinnerten.

Als das Osmanische Reich 1918 zusammenbrach, flüchteten die wenigen armenischen Überlebenden vor allem nach Syrien und in den Libanon. In  diesen Ländern gibt es im Gegensatz zur Türkei noch große armenische Gemeinden – die Nachkommen der Überlebenden.

Die Materialien und Hintergründe, die ich auf meinen Reisen und Recherchen gesammelt hatte, waren inzwischen so umfangreich und entlarvend, dass ich begann, ein Buch darüber zu schreiben, aber kein Verlag wollte sich an dem Thema die Finger verbrennen. Nicht nur in Deutschland. Auch die Armenier schrieben mir: „His Holiness read carefully your text. He discovered many points which need complete rewriting…“

Ein Überlebender vom Musa Dagh in Anjar, Libanon. Mit dieser Fahne machten die Armenier bei ihrer Vertreibung 1915 die Franzosen auf sich aufmerksam und wurden von ihnen gerettet.
Ein Überlebender vom Musa Dagh in Anjar, Libanon. Mit dieser Fahne machten die Armenier bei ihrer Vertreibung 1915 die Franzosen auf sich aufmerksam und wurden von ihnen gerettet.

Es war offenbar nicht opportun, über die Spaltung der Armenier, deren schwierige Situation in Syrien und die Rivalitäten in der Vergangenheit zu berichten. Die Fotos, die ich damals machte,  wurden und werden noch immer weltweit veröffentlicht.
Die Texte aber blieben und bleiben in der Schublade.

 

 

 

 

 

 

 


Weitere Informationen im Internet:

de.wikipedia.org/wiki/Völkermord_an_den_Armeniern

www.armenocide.de


Wolfgang Kunz war bis 1970 Fotograf beim stern.

1983 Mitbegründer der Agentur Bilderberg.

1983 Gewinner des World Press Award. Kurz lebt heute als freier Fotograf in Berlin.

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